Ein Leben wie gehetztes Wild auf Nebenstraßen

Die Begegnungsstätte Alte Synagoge hat jetzt ein Buch herausgebracht mit Briefen, die Juden aus Wuppertal an den Lehrer und Politiker Ulrich Föhse geschrieben haben. So wie Erich Plaut im Oktober 1983.

Ein Leben wie gehetztes Wild auf Nebenstraßen
Foto: Stefan Fries

Lieber Herr Föhse, ich bin in Elberfeld an der Bahnhofstraße, Ecke Bökel, über einer Bäckerei am 30. Januar 1922 geboren; ebenso mein Bruder Werner am 23. August 1923. Meine Schwester Annemarie kam am 10. April 1926 zur Welt. Zu dieser Zeit wohnten wir schon in der Augustastraße 54 in der Südstadt, wo wir bis zur Auswanderung wohnten. Mein Vater Julius war Sozius in der Firma Plaut & Reuter. Das Domizil der Firma war im Textilhaus an der Hofaue. Sie wurde 1938 durch Zwangsverkauf enteignet, während mein Vater im Gefängnis — in sogenannter Schutzhaft — war. Wir gehörten zur Synagoge hinter dem Kaufhaus Tietz (später Kaufhof), ich glaube, es war die Genügsamkeitstraße. Mein Vater war Repräsentant in der Gemeinde und besuchte die Synagoge fast jeden Freitagabend und Samstagmorgen. Um die Zeit meiner Geburt kaufte er einen lebenslänglichen Sitz in der Synagoge, was eine der wenigen Sachen ist, die er aus der Inflation gerettet hatte.

Bis fast zum Schluss war ich befreundet mit Heinz Pfaffmann aus der Ronsdorfer Straße, bis sein Vater ihm den Umgang mit mir verbot. Wir gehörten zu dem „Jüdischen Kulturbund“, der für einige Zeit in dem Gebäude schräg gegenüber des Gebäudes der Firma Windmüller & Mendels Aufführungen gab. Ich habe gerade einen Stadtplan von Wuppertal 1956 und versuche einige Straßen zu finden: Die Straße von der alten Badeanstalt am Stadttheater vorbei zur Hofaue war, glaube ich, der Brausenwerth. Die Jägerhofstraße ist die Verlängerung der Augustastraße, wo Rechtsanwalt Strauß nahe der Ecke Cäcilienstraße wohnte. Unser Haus, Augustastraße 54, stand an der Ecke Ferdinand-Schrey-Straße. Die Turnhalle des Schild und Hakoa, sowie die Grunewaldsche Hemdenfabrik waren am Neuenteich, ungefähr eine Straßenlänge vom Hofkamp, auf der rechten Seite.

Mein Volksschullehrer an der Kurfürstenstraße war Herr Jung, dessen Sohn Giso in meiner Klasse war. Ich bekam öfters Schläge, wobei der Lehrer meinen Kopf zwischen seine Knie klemmte, dann die Hose stramm zog und mich mit dem abgesägten Spazierstock vermöbelte. Ich weiß nicht mehr, warum ich Schläge bekam. Meine Mutter erzählte mir, dass sie eingewilligt habe, dass Herr Jung mich so disziplinierte, wie übrigens auch alle anderen in der Klasse. In diesem Zusammenhang fällt mir eine Anekdote ein: Ein paar Jahre vor unserer Auswanderung bat ich meinen Vater, mir seine Skier (die er nicht mehr benutzte) für einen Mitschüler zu leihen, damit er mit mir in die Gelpe zum Skilaufen konnte.

Mein Vater lehnte es ab, die Skier an einen ihm Unbekannten zu verleihen, worauf ich erwiderte, er solle das besser noch einmal überlegen, da man nicht wisse, wozu man einen Gefängnis-Inspektor vielleicht gebrauchen könne. Leider hatte ich diese Begebenheit völlig vergessen, als mein Vater in Schutzhaft im Gefängnis war und den Besuch des Inspektors Hoffmann erwartete. Seifge, der Sohn des damaligen Zoodirektors, weigerte sich, sich von einem Juden (von mir) beim Turnen in der zweiten Riege kommandieren zu lassen, worauf ich wieder als gewöhnliches Mitglied in die erste Riege zurücktrat. Sonst fallen mir keine Namen mehr ein. Meine Lehrer waren Dr. Ahrens, genannt Ölf, ein anderer Dr. Ahrens, genannt Schnüffel, Dr. Remscheid, Dr. Hoffmann, den ich als einen anständigen Menschen betrachtete und ihm daher niemals vergeben konnte, dass er Rassenkunde gelehrt hatte. Als ich 1961 für zwei Tage in Wuppertal war, habe ich die Schule besucht und gehört, dass der einzige, noch in der Nähe wohnende Lehrer dieser Dr. Hoffmann war. Er war gerade über eine Herz-Attacke hinweg und lag noch im Krankenhaus. Ich bekam die Erlaubnis, ihn zu besuchen, konnte mich aber angesichts seiner kläglichen Lage nicht überwinden, ihn zu fragen. Er schien glücklich darüber zu sein, den Besuch eines alten Schülers aus Amerika zu bekommen. Das konnte ich ihm nicht verderben.

Am 9. November 1938, der Kristallnacht, waren wir Kinder schon im Bett, als meine Mutter hereinkam und uns weckte. Sie erklärte, was draußen vorging, und bat uns, uns in der Dachkammer zu verstecken. Müde und schläfrig dachten wir, dass es für uns viel schlimmer sein würde, wenn man uns dort finden würde. Wir drehten uns um und schliefen wieder ein. Mein Vater war auf einer Geschäftsreise mit dem Chauffeur Hans Ramroth in der Gegend von Köln und Mönchengladbach. Er rief uns von einem öffentlichen Telefon aus an. Meine Mutter sagte ihm, dass Gestapobeamte schon bei uns waren und nach ihm gefragt hatten. Nach drei Tagen konnte er es nicht mehr aushalten, wie ein gehetztes Wild auf Nebenstraßen zu leben. Er kam wieder nach Hause und stellte sich der Polizei, die er von zu Hause anrief. Er wurde abgeholt und ins Gefängnis geführt, wo kurz darauf die letzte Gruppe aufgerufen wurde, zur Abfahrt ins Konzentrationslager. Da er noch nicht auf der Liste stand, wurde er ungefähr acht Tage im Gefängnis behalten, bis sein Geschäft zwangsverkauft war.

Meine Geschwister und ich wurden im Dezember 1938 auf einen Kindertransport nach Holland geschickt, wo wir die Zeit in Flüchtlingslagern verbrachten, bis meine Eltern uns dort abholten und wir nach Amerika gingen. Wie schon eingangs erwähnt, wurden alle Geschwister meines Vaters mit ihren Ehepartnern in KZs geschickt, wo sie umkamen. Ich bin bereit, soweit möglich, weitere Erklärungen zu machen.

Mit freundlichem Gruß, Erich Kurt Plaut

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