Ein Kleid aus roten Luftballons

WZ-Kolumnist Uwe Becker beobachtet gerne seine Umgebung.

Ein Kleid aus roten Luftballons
Foto: Joachim Schmitz

Als der Vorstandsvorsitzende des Jobcenter Wuppertal, Thomas Lenz, als Teilnehmer einer Gegen-Nazi-Demo in Barmen von Polizisten verhaftet wurde, saß ich, weil ich mir am Türrahmen den kleinen Zeh meines rechten Fußes gestoßen hatte, in meiner Unterbarmer Wohnung am Fenster und sah hinaus auf die Völklinger Straße. Meinen schmerzenden Fuß hatte ich mit einer kühlenden Salbe eingecremt und hochgelegt. Mir fiel dann auf, dass draußen hunderte von Fotografien auf der Straße lagen. Ich konnte aber nicht genau sehen, was auf den Fotos abgebildet war. Mit einem meiner drei Ferngläser, die ich vor vielen Jahren zur Konfirmation geschenkt bekam, erkannte ich, dass die gesamte Straße mit Bildern des Tanztheaters von Pina Bausch übersät war. War das ein Zeichen?

Begrabt mein

Herz in Wuppertal

Meine Begeisterung für das Tanztheater und den Tanz im Allgemeinen ist ja inzwischen fast jedem in dieser Stadt bekannt. Oder hat womöglich ein Fotograf nach der Überschwemmung seines Kellers, das gesamte Bildarchiv zum Sperrmüll gelegt? In der Nacht zuvor muss aber jemand, vielleicht ein betrunkener Deutscher, Syrer, Inder, Spanier, Italiener, Nigerianer oder Türke den Müllberg zerfleddert haben und hat dann die Plastiktüten mit den Bildern über die gesamte Straße verteilt.

Ab einem bestimmten Alter, das muss ich hier kurz einflechten, schaut man tatsächlich gerne aus dem Fenster und beobachtet die Umgebung. Meistens ist es nicht spannend, am Samstag schon, weil so viele tolle Fotos von der Tanzkompanie auf der Straße lagen. Mit meinem neuen Kissen auf der Fensterbank war es auch noch viel bequemer als sonst.

Einige Zeit später beobachtete ich einen etwas übergewichtigen jungen Mann im roten Poloshirt, der begann, die auf der Straße liegenden Fotos des Tanztheaters zu betrachten. Ich hatte das Gefühl, der junge Mann sei unschlüssig, ob er die Lichtbilder einsammeln sollte oder lieber nicht. Er schaute dann nach rechts und links, tat so, als ob er etwas in sein Handy tippte, bückte sich dann aber schnell, sammelte zwei drei Bilder ein und steckte sie in seine linke, hintere Hosentasche.

Diesen Vorgang wiederholte er innerhalb von zwei Stunden mindestens zweihundert Mal. Ich hatte inzwischen mein Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen, damit der junge Mann die Sammelaktion nicht abbricht, nur weil ich ihn beobachte. Am frühen Nachmittag hatte der junge Mann tatsächlich alle auf der Straße liegenden Fotografien eingesammelt.

Bis auf zwei Fotos, die der Wind wohl in der Nacht auf die Fensterbank meiner Küche gewirbelt haben muss. Ich wohne zwar Hochparterre, aber meine Küche liegt etwas höher, als die anderen Zimmer zur Straßenseite, so konnte der Mann diese Bilder gar nicht sehen. Selbst wenn er sie gesehen hätte, wäre er ohne fremde Hilfe nie an die Fotos herangekommen. Da hätte er schon einen anderen Passanten auf der Straße bitten müssen, eine „Räuberleiter“ zu bauen.

Ich habe die beiden schönen Aufnahmen jetzt vom Fensterbrett zu mir in die Wohnung geholt. Auf einem Foto ist die Tänzerin Julie Shanahan abgebildet, sie trägt ein Kleid aus vielen roten Luftballons. Ich vermute, es ist eine Szene aus dem Stück „Nelken“ oder „Luftballons“.

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