Armin Brost: Offener Brief an die Stadtverordneten

Offener Brief an die Stadtverordneten des Rates der Stadt Wuppertal zum Haushaltssicherungskonzept, vorgelegt von Oberbürgermeister Peter Jung und Kämmerer Dr. Johannes Slawig am 17. November 2009

Sehr geehrte Damen und HerrenStadtverordnete,

August Ferdinand Möbius war ein klugerMathematiker und Astronom. Er lebte von 1790 bis 1868 im LeipzigerRaum. Auf ihn geht neben zahlreichen weiteren Entdeckungen undEntwicklungen auch das nach ihm benannte Möbiusband zurück, eineseltsam überkreuz zusammengefügte Schleife, bei der man wederAnfang noch Ende noch die Dimensionen eindeutig erkennen undunterscheiden kann. Die Schleife geht so in sich selbst über, dass,wenn man z.B. auf einer der scheinbar zwei Seiten beginnt, einenStrich zu ziehen oder die Seite einzufärben, man am Ende das ganzeBand eingefärbt hat, ohne dabei zu bemerken, wann und ob überhauptman die Ebene des Beginns seiner Aktion verlassen hat.

Von den seltsam-mysteriösen Phänomenendes Möbiusbandes haben sich Künstler wieM.C. Escher sowie Dichter und Literatenwie Erich Fried in ihren Werken inspirieren lassen.So beschreibt Erich Fried seinenHerzenszustand in einem seiner Gedichte: "Ich habe mir einMöbiusherz gefasst, dass sich in ausweglose Streifen schneidet."

Ein Möbiusherz gefasst haben sichoffenbar auch Oberbürgermeister Peter Jung (CDU) im Konzert mitseinem Kämmerer Dr. Johannes Slawig, als sie, kurz nach denKommunalwahlen, unter dem Motto "Sparen, um zu gestalten" ein"Haushaltssicherungskonzept" für die Jahre 2010 bis 2014vorlegten, dass in die derzeit noch vorhandenen Lebensadern unsererStadt "ausweglose Streifen" schneiden wird, sollte es tatsächlichzu seiner Realisierung kommen und im Juni d.J. das "placet" vomRat der Stadt Wuppertal erhalten.

Dass es unserer Stadt aus sehrunterschiedlichen Gründen nicht gut geht, ist seit Jahren bekannt.Nicht alle davon, insoweit beispielsweise Fragen des Finanzausgleichsim föderativen System, des gesellschaftlichen Strukturwandels undder Konjunkturzyklen eine Rolle spielen, sehr wohl aber viele vonihnen liegen im Verantwortungsbereich der Kommunalpolitik. In einemvom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut im Jahr 2008 bundesweiterhobenen Vergleich von 30 deutschen Großstädten mit mehr als 250Tsd. Einwohnern - Wuppertal zählt ja noch dazu, wenngleich dieAbwanderungsquote der Menschen, die Wuppertal mangelsPerspektivlosigkeit und unbefriedigender Lebensqualität den Rückenkehren, mittlerweile dramatisch ist - belegte Wuppertal dentraurigen vorletzten Rang, gefolgt nur noch vom sächsischenChemnitz. Die Stadt hat damit die denkbar schlechtestenVoraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung und einerdamit verbundenen Konsolidierung seiner maroden Finanzlage, aus dersie sich, im Zangengriff des Schuldendienstes stehend, aus eigenerKraft nicht mehr wird befreien können.

In unmittelbarer Nachbarschaft zu denrheinischen Städten Düsseldorf und Köln sowie dem mittlerweilezum Großkulturraum sich gewandelten Ruhrgebiet muss auch Wuppertallernen, in größeren und damit eben auch in größeren regionalenZusammenhängen zu denken und zu agieren. Was darüber hinaus auchgefragt und unabdingbar ist, um wirklich einen Schritt voranzukommen,ist der Mut der Kommunalpolitiker zum Zusammenschluss zwecksgemeinsamer Abwehr der Gefahren, die auf unsere Stadt zukommen, umüber Parteigrenzen und den Parteienproporz hinweg laut protestierendauf die katastrophale Lage einer Region und seiner Städte bei denVerantwortlichen auf der Landes- und Bundesebene aufmerksam zumachen. Es mag dem Parteifreund des Herrn Oberbürgermeisters, HerrnMinisterpräsidenten Jürgen Rüttgers, aus der DüsseldorferPerspektive seines Regierungssitzes heraus - der Stadt, mit der auchim Jahr 2009 in der von der Beratungsgesellschaft Mercerdurchgeführten internationalen Vergleichsstudie erneut bestätigtenhöchsten Lebensqualität in Deutschland - durchaus nichtunmittelbar einleuchten, wie es um die Region seines Landes, die sichnur wenige Kilometer von seinem Dienstsitzentfernt befindet, tatsächlich bestellt ist. Hier wäre, durchausgern auch "parteiintern", mit deutlichen und klaren Worten einmalNachhilfe wünschenswert und dies bei den Parteifreunden inRegierungsverantwortung im noch weiter entfernten Berlin gleich mit, insoweites beispielsweise um den einäugigen Blick auf die strukturschwachen GebieteOstdeutschlands geht und die damit verbundenen Zahlungen in den Fonds Deutsche Einheit.

Das "Sparen-um-zu-Gestalten-Konzept"des Oberbürgermeisters und seines Kämmerers trägt inlinguistischer Hinsicht allerdings einen Duktus, der auf der Höheseiner Zeit und politisch offenbar "en vogue" ist. Beruhigendist nur, dass der Bürger seit dem Ausklang der Reformära nachWilly Brandt Zeit gefunden hat, sich auf die Ellipsen babylonischerSprachverwirrung und auf die Umdeutung der Bedeutungen der Wörtereinzustellen, und er reagiert darauf mit entsprechender Skepsis undgroßem Misstrauen. Wenn von "Sparen", von "Gestalten", von"Haushaltssicherung", von "Konsolidierungsmaßnahmen"wortreich die Rede ist, ist äußerste Aufmerksamkeit geboten, um zuverstehen, was dem Bürger damit in verdaulichen Worthäppchenunterschoben werden soll. So auch im vorliegenden Fall. Wer sich auchnur ein wenig mit dem vorliegenden Konzept der beiden Stadtoberenbefasst, dem fällt schnell auf, dass es bei den vorgesehenenKürzungen um alles andere geht als darum, Gestaltungsräume zuschaffen. Hier ist ein radikaler und phantasieloser Kahlschlag zumProgramm erhoben worden, der in erster Linie den Normalbürgerbetrifft und zur Kasse beordert, das Dahinsiechen unserer Stadt nochweiter vorantreiben wird und nicht im Geringsten dazu beitragen kann,die Stadt aus ihrer desolaten Situation herauszuführen. Es sollzunächst um "Einsparungen" in einer Größenordnung von 80 Mio.Euro gehen. Bezogen auf die Gesamtverschuldung der Stadt, die zurJahreswende annähernd 2 Mrd. Euro (!) betragen dürfte, entsprichtdas angestrebte Volumen einer Marginalie von gerade einmal 4Prozent. Dabei kann von "Einsparungen" in diesem Zusammenhangnicht wirklich die Rede sein, denn weder wird sich dieVerschuldungssituation der Stadt durch die vorgeschlagenen Maßnahmenverringern, sondern sie wird im Gegenteil weiterhin ansteigen, nochwird sich an dem frivolen Zinsdienst, den die Stadt Jahr für Jahr instetig steigendem Ausmaß an ihre Gläubiger zu leisten hat, etwasändern. Von den zur Rede stehenden 80 Mio. Euro des"Sparen-um-zu-Gestalten-Konzeptes" werden weit über 40 Mio. Euroallein in diesem Jahr ausschließlich dem Zinsdienst zufließen -wem also soll damit tatsächlich gedient sein? Dem Bürger und seinerblutleeren Stadt wohl am wenigsten!

Das ganze Ausmaß der Zumutungen,welche die vorgeschlagenen Einsparungen für die Bürger und ihreStadt bedeuten, bekommt vor dem Hintergrund der gegenwärtigenGlobalkrise des Wirtschafts- und Finanzsystems, in die uns zu einemsehr wesentlichen Teil das unverantwortliche und aberwitzige Handelnder Jongleure des nationalen und internationalen spekulativenBankengewerbes hineingeführt hat, seine besondere Prägnanz. Diebekannt gewordenen Zahlen über das weltweite Ausmaß derVernichtung von Werten haben eine absurde, jedes vorstellbare Maßüberschreitende Größenordnung erreicht. Die asiatischeEntwicklungsbank schätzte im März des zurückliegenden Jahres, dassbis dato weltweit eine Wertvernichtung in einer unvorstellbarenGrößenordnung von 50 Billionen Dollar stattgefunden hat. DerInternationale Währungsfond, IWF, schätzt, dass sich auf Grund derKrise weltweit die Wirtschaftsleistung um rd. 4,7 Billionen Dollarverringert hat. Die Zeche zu zahlen, im globalen "Großen" wie imkommunalen "Kleinen", haben über Generationen die Bürger undSteuerzahler, der sogenannte "kleine Mann". Der Vergleich istberechtigt, denn es handelt sich in dem einen wie in dem anderen Fallnur um die Kehrseite derselben Medaille. Wer dient in diesemunmoralischen Wirtschafts- und Finanzsystem eigentlich wem, dasWirtschaftssystem dem Bürger oder der Bürger dem Wirtschaftssystem,inkl. seiner untrennbar siamesisch mit ihm verbundenen Profitgierseiner Jongleure?

Was hat das spekulative Bankengewerbe,was haben die Finanzjongleure aller Couleur, was hat die Politikeigentlich aus der Krise gelernt? Wie man beobachten kann: nicht vielNeues. Zum Beispiel: Dass es selbst im Supergau noch eine"Sozialversicherung" von Staats wegen für das Bankenkapital gibt, die Millionen undAbermillionen zur "Rettung" eines marodenWirtschafts- und Finanzsystems bereit hält (dasG20-Gipfeltreffen in London im März des vergangenen Jahres pumpte inkürzester Zeit 1000 Milliarden Dollar in das System "zurÜberwindung der Rezession"), die letztlich vom Steuerzahleraufzubringen sind, und so heißt es heute bereits wieder: Weiter sowie gehabt in alter Frische und gleichem Stil; denn uns kann nichtviel geschehen! Wie lange noch und in welchem Ausmaß ist der sog."kleine Mann", sind also wir alle bereit, diesen erkennbarenIrrsinn - im Großen wie im Kleinen - mitzutragen? Wie wäre es,wenn die in dem Aktionsbündnis "Raus aus den Schulden"zusammengeschlossenen 19 ärmsten Kommunen des Landes, zu denenWuppertal führend zählt, den Zinsdienst an das Bankenkapital,vorerst für den Zeitraum der sagen wir nächsten zehn Jahre,aussetzen würde, um mit dem so tatsächlich "eingesparten"Geldern die Kommunalhaushalte zu sanieren? Dieser Vorschlag mag"radikal" klingen, er schrumpft allerdings recht schnell auf"Peanutsgröße" zusammen, wenn man bedenkt, in welcherGrößenordnung staatliche, d.h. auf Basis von Steuereinnahmenbasierende Geldtransfers an das spekulative Bankenkapital geflossensind und immer noch fließen. Sprach nicht Hilmar Kopper, seinesZeichens zur damaligen Zeit Topmanager und Vorstandssprecher derDeutschen Bank, von "Peanuts", als es um die öffentliche Debatteüber offene Handwerkerrechnungen in einer Größenordnung von 50Mio. Euro ging? Man sollte ihn beim Wort nehmen!

Erstaunliche Effekte entstehen, wennman ein Möbiusband längs seiner Mittellinie aufschneidet und diesbeliebig oft wiederholt, das Band also - dem Scheine nach -halbiert, drittelt, viertelt usw. Zwar entstehen in diesen Fällendie interessantesten und komplexesten Gebilde, aber stets, was immerauch geschieht, bleibt das Ganze eine "ausweglose Schleife",deren Windungen und Wendungen allerdings kaum noch nachzuvollziehensind, je öfter man das Band "beschneidet". Die Eigenschaften desMöbiusbandes haben vor allem in der Technik viele erfolgreichepraktische Anwendungen gefunden, z.B. in der Riementriebtechnik. Nochnie allerdings wurde davon berichtet, dass die innere Logik einesMöbiusbandes eine praktische Anwendung in kommunalenVerwaltungsstrukturen gefunden hätte, wenngleich auch in diesemBereich immer wieder viel Technokratie vorzufinden ist. Der Grundliegt wahrscheinlich darin, dass die wesentliche Eigenschaft desBandes, sich in ausweglose Schleifen zu verlieren, kein probatesMittel ist, um beispielsweise marode Kommunal- oder Staatshaushaltewieder flott zu machen und zu sanieren.

Es mag sein, dass sich die Herrenunserer kommunalen Verwaltungsspitze, ohne es zu bemerken, gedanklichin ein solches Band verstrickt haben; dann wäre es ein Gebot derMitmenschlichkeit, die Herren aus ihren gedanklichen Verstrickungenwieder zu befreien. Sie haben als Verordnete der Stadt Wuppertal dazuauf Ihren Sitzungen im März und im Juli des Jahres die Möglichkeit,wenn Sie zusammenkommen werden, um über das"Sparen-um-zu-Gestalten-Konzept" aus der Feder desOberbürgermeisters und seines Kämmerers Beschluss zu fassen. JederStadtverordnete sollte dann ausschließlich seinem Gewissen undseiner Verantwortung für das Wohlergehen unserer Stadt undselbstredend auch für das unserer Stadtspitze folgen und über jedeParteigrenze hinweg das tun, was für unsere Stadt notwendig ist: dasKonzept ablehnen!

Mit freundlichen Grüßen verbleibt

A. Brost

Bürger der Stadt Wuppertal

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