Gegen das Vergessen: Den Toten eine Stimme verleihen

Persönliche Geschichte von Bürgermeister Klaus Walterscheid macht nachdenklich.

Sprockhövel. Damit der nach dem Ersten Weltkrieg eingeführte Volkstrauertag nicht zu einem bloßen Heldengedenktag verkümmert, sind die Redner der heutigen Zeit gefordert, entweder neue Bezüge zum Alltag der Menschen zu finden oder eine aktuelle Beziehung zwischen Vergangenheit und Heute zu knüpfen.

„Weil die Toten schweigen, beginnt immer wieder alles von vorn“, zitierte Bürgermeister Klaus Walterscheid am Anfang seiner Ansprache auf dem Evangelischen Friedhof in Haßlinghausen den 1973 verstorbenen französischen Philosophen Gabriel Marcel.

„Für diese eigentlich trostlose Botschaft gibt es viele Belege“, sagte er und zählte ausschnittsweise die Abfolge von den Kriegen Napoleons über Kriege Preußens gegen Dänemark oder Frankreich bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg und den Afghanistankrieg mit deutscher Beteiligung auf.

„Wenn die Toten reden, kann das auch anders sein“, drehte Klaus Walterscheid dann die Ausgangsformulierung um. Durch das Weitererzählen von Geschichten könne man Tote zum Reden bringen und so Veränderungen auslösen, meinte er und gab dann gleich ein mehr als beeindruckendes Beispiel aus seiner Familie.

Im Jahr 1944 habe seine Großmutter einen Brief erhalten, in der ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Sohn — der Onkel des Bürgermeisters — an der Westfront vermisst sei. Die sich daran anschließende Zeit der Ungewissheit sei so schwierig gewesen, dass die Großmutter später nie mehr davon, sondern nur von einem Briefträger erzählt habe.

Dieser habe fast zwei Jahre später morgens ganz früh, offenkundig nicht im Rahmen seiner normalen Tour, sondern eigens direkt nach Arbeitsbeginn, vor der Tür der Großmutter gestanden, um einen Brief abzugeben — einen Brief des vermissten Sohns aus der Kriegsgefangenschaft in England.

„Menschen, die so mitleiden und mitdenken, sind beeindruckender als alles, was in Geschichtsbüchern steht“, mahnte Klaus Walterscheid. Derart die Toten nicht schweigen zu lassen, sei wichtig und die aktuelle lange Friedensperiode in Deutschland sei ein Hinweis auf den Erfolg, den das Weitertragen der Geschichten haben könne.

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