Rettungdienst: Eine Nacht unterwegs in Neuss

Reportage: Die Johanniter sind rund um die Uhr im Einsatz. Die WZ hat die Helfer in der Not zwölf Stunden lang begleitet.

Neuss. Die Wanduhr zeigt genau 22.25 Uhr, als die Rettungsassistenten Heiko Kraus und Alexander Wingerath das schmale Wohnzimmer der Herzinfarkt-Patientin betreten. Renate Sommer (Name von der Redaktion geändert) sitzt auf der schwarzen Ledercoach, ihr Gesicht ist fahl. Mit der Hand hält sie sich die Brust, das Atmen fällt ihr schwer. Innerhalb weniger Sekunden haben die Rettungsassistenten die 82-Jährige verkabelt, das EKG zeigt zackige Kurven. Wingerath stülpt ihr eine Sauerstoffmaske über den Kopf. Kraus hält den Blickkontakt, drückt mit seinen blauen Gummihandschuhen die Hand der Patientin, während sein Partner eine Vene für die Nadel sucht.

Die Nachbarin ist vom Lärm wach geworden und steht mit einem Bademantel bekleidet im Türrahmen, kurze Zeit später betritt der Notarzt das Wohnzimmer. "Wir müssen den Blutdruck runter kriegen", so die knappe Ansage. Renate Sommer wird mit der Trage in den Rettungswagen gebracht und ins Lukas-Krankenhaus gefahren. In Raum 10 endet der Einsatz für Heiko Kraus und Alexander Wingerath, sie müssen die Patientin dem Ärzteteam überlassen.

Für die Rettungsassistenten war das bereits der achte Einsatz während ihrer Schicht. Seit 8 Uhr morgens sind sie auf den Beinen und werden noch bis zum nächsten Morgen Bereitschaft haben. Nach einer weiteren Transportfahrt eines Patienten zeigt die digitale Uhr im Rettungswagen 23. 46 Uhr an.

Seit seinem 16. Lebensjahr ist Heiko Kraus bei den Johannitern, damals arbeitete er ehrenamtlich. Nach einem kurzen Ausflug in die Wirtschaftsbranche zog es ihn zurück in den Rettungswagen. "Es ist ein Knochenjob, ohne eine idealistische Grundeinstellung könnte man ihn wohl kaum ausüben", sagt der 40-Jährige. Sein Pieper schrillt, der nächste Einsatz wird von der Leitstelle weitergegeben: "Chirurgischer Alarm" steht auf dem Gerät.

Ein Mann ist in der Wohnung gestürzt und kann sich nicht mehr bewegen. Die aufgeregte Ehefrau empfängt Kraus und Wingerath an der Straße und leitet die Männer in die erste Etage. "Ich habe ihn nicht hochbekommen, ich wusste mir nicht zu helfen", wiederholt sie immer wieder. Kraus beruhigt: "Das haben sie richtig gemacht, dafür sind wir da."

Ihr Mann liegt hinter der Wohnungstür, er ist ansprechbar. Wingerath tastet den Kopf nach offenen Verletzungen ab. Kein Blut. Der Mann klagt über starke Schmerzen an der Wirbelsäule. "Sie müssen im Krankenhaus geröntgt werden", erklärt Kraus dem Mann. Eine zweiteilige Trage ermöglicht es Kraus und Wingerath, den Patienten nicht anheben zu müssen.

Vorsichtig schieben sie die beiden Einzelteile von rechts und links unter den Mann und befestigen sie. Dann wird der Mann auf einer Vakuummatratze liegend ins Johanna-Etienne-Krankenhaus gefahren. Die Uhr im Flur der Ambulanz zeigt 2.07Uhr, als Kraus und Wingerath der Krankenschwester "Bis später" zurufen.

20 Minuten später sitzen die Männer im Gemeinschaftszimmer auf der Wache. Jede Sekunde könnte der nächste Einsatz kommen, und die Männer wissen, dass es das Schicksal nicht immer gut mit ihnen meint. "Sobald du dich hinlegst, wirst du zum Einsatz gerufen. Wenn du drauf wartest, kommt nichts", sagt Wingerath und schmunzelt. Der 27-Jährige hat vor drei Jahren seine Ausbildung beendet, mit Kraus ist es erst seine dritte gemeinsame Schicht. Im Hintergrund heult der Motor eines Rettungswagens auf. Das zweite Einsatzteam Anika Breslau und Thilo Schmelzer ist unterwegs zu einem Einsatz. Ein Jugendlicher hat zu viel Alkohol getrunken.

Kraus und Wingerath legen sich in ihre Betten, versuchen ein wenig Schlaf zu bekommen. Die Hosen liegen griffbereit über den Stühlen. Eineinhalb Stunden später schrillt der Pieper, das Licht geht automatisch an. Exakt drei Sekunden brauchen die Männer, bis sie angezogen sind und zum Wagen stürmen. "Asthma-Anfall", liest Wingerath vor. Mit Sirene und Blaulicht rasen die Männer durch die Nacht.

Theo Wiese (Name von der Redaktion geändert) steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als das Duo seine Wohnung betritt. Seine Lunge pfeift laut, er japst nach Luft. Sofort setzt Wingerath ihm eine Maske auf, die die Bronchien erweitern soll. Der eingetroffene Notarzt gibt ihm eine Spritze. Theo Wiese ist transportbereit. Um 5.45 Uhr liegen die Männer wieder in ihren Betten. Und erneut währt die Ruhe nicht lange. Um 7.15 Uhr werden sie zu einer Frau mit Nierenkolik in die Innenstadt gerufen. Die 80-Jährige sitzt stöhnend in der Küche, der Frühstückstisch ist noch nicht abgeräumt. Nach der Erstversorgung heben Kraus und Wingerath die aufgelöste Frau auf die Trage und in den Rettungswagen.

Die Rettungsassistenten haben gerade das Krankenhaus-Gelände verlassen, da piept es erneut. Ein Mann mit psychotischen Störungen hat einen Schub und soll in die Psychiatrie gebracht werden. "Die Ehefrau sagt, er neige zu aggressivem Verhalten. Der Mann ist von zu Hause weggelaufen", erklärt Wingerath. Die Johanniter haben den Patienten in der Nähe einer S-Bahn-Brücke entdeckt. Der Mann versucht, zu entwischen.

"Er kennt das Spiel", ruft Kraus. Die Rettungsassistenten laufen hinterher und kesseln den Mann ein. Die Polizei kommt hinzu. Kurze Zeit später scheint der 48-Jährige überzeugt. Er lässt sich zum Wagen bringen und anschnallen. Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde nach Dienstschluss, geht die Schicht zu Ende. Nun werden Kraus und Wingerath erst einmal ausschlafen, bevor sie am nächsten Tag erneut in den Einsatz starten werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort