Die verrückten Jahre in Paris

Die Deutsche Kammerakademie und der junge Violinist Sunao Goko begeistern die Zuhörer in der Stadthalle. Der studierte Musiker und Rhetorik-Dozent Finkernagel führte locker, professionell und mit angenehmer Stimme durchs Programm.

Neuss. In seiner Begrüßung nahm es Bürgermeister Herbert Napp vorweg: „Paris ist immer für ein Abenteuer gut.“ Populäre Klassiker suchte man diesmal in einem fast rein französischen Programm vergebens. An Qualität büßte das traditionelle Neujahrskonzert trotzdem nicht ein, im Gegenteil: Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein (DKN) setzte in der Stadthalle künstlerisch ein Ausrufezeichen.

Das ambitionierte Ensemble unter Leitung von Chefdirigent Lavard Skou-Larsen genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuhörer. Thematisch ging es um die unbeschwerte Zeit der 20er Jahre: „Paris . . . les années folles!“

Von den wilden Jahren in Neuss sprach der Stadtchef zwar nicht, stattdessen gab Napp ohne Umschweife zu, dass er sich mit seiner düsteren Prognose zur Krise an gleicher Stelle im vorigen Jahr wohl sehr getäuscht habe.

„Die positive Lage überrascht, aber wir sind noch lange nicht an Schmitz Backes vorbei“, konstatierte Napp. Er forderte die Neusser auf, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Zum Wutbürger müsse man aber nicht gleich werden, auch wenn er sich selbst im Stadtrat mitunter wie einer fühle.

Vital und musizierfreudig ging die Kammerakademie ans Werk: Den Einstieg machte ein forsches Rondeau aus der Ballett-Suite „Les Biches“ von Francis Poulenc und Darius Milhauds Hochzeit auf dem Eiffelturm. Von Milhaud stammt der schöne Satz, Komponisten sollten Musik schreiben, in der man wohnen könne. Milhaud hat einige Zeit in Brasilien verbracht — etwas, das ihn mit Skou-Larsen verbindet.

Der Dirigent ist in Brasilien geboren, und bei Milhauds „Copacabana“ aus „Saudades do Brasil“ ist die ansteckende Spielfreude Skou-Larsens am Pult unübersehbar. „Copacabana“ heißt soviel wie „Dach der Hütte“ klärt der Orchesterleiter im heiteren Zwiegespräch mit Moderator Daniel Finkernagel auf. „Das, was heute so nach femininen Kurven aussieht, ist künstlich angelegt. Die Copacabana war früher ein Naturstrand.“

Der studierte Musiker und Rhetorik-Dozent Finkernagel führte locker, professionell und mit angenehmer Stimme durchs Programm. Von ihm ließ sich Lavard Skou-Larsen auch persönliche Anekdoten entlocken: Etwa, dass er im Kindergarten von einem Professor betreut wurde und ihn die Wildheit der baskischen Küste zum französischen Programm inspirierte.

Finkernagel weiß, dass auf der Geige oder Bratsche nur Millimeter über Kunst oder Katastrophe entscheiden. Zudem erzählte er dem Publikum, dass bei einem Solo so viel Stresshormone wie bei einem Düsenjet-Piloten freigesetzt werden.

Für den erst 17-jährigen Sunao Goko kein Grund, nervös zu werden: Der Japaner entlockte seiner Stradivari von 1682 bei Ravels Tzigane einmalige, zarte Töne. Mitreißend, wie der Wiener Student mit atemberaubender Beweglichkeit über die Saiten strich.

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