Nachwuchs auf der Sommerkoppel

Familie Werths aus Neersen züchtet seit 15 Jahren Damwild. Zurzeit jagen 24 Jungtiere in der Herde energiegeladen über die Sommerkoppeln zwischen Virmondstraße und Am Bruch.

Nachwuchs auf der Sommerkoppel
Foto: Kurt Lübke

Neersen. Campingstühlchen an den Zaun stellen und gucken. Am Bruch in Neersen könnte man zurzeit Stunden nur mit Zuschauen verbringen. Es sind bewegte Zeiten für die Zuchthirsche Willi und Heinrich. Ihre weiblichen Herdenmitglieder, die Damtiere, haben vor kurzem gekalbt. Nun pesen 24 Jungtiere zuweilen in einem Tempo von 60 Stundenkilometern über die Sommerkoppel. Sie hüpfen, springen, jagen sich nach, zupfen hier und da Gras und Kräuter. Erst wenn die Muttertiere fiepen, heben sie ihre Köpfe und suchen den Weg zu den Zitzen.

Nachwuchs auf der Sommerkoppel
Foto: Kurt Lübke

„Sehen Sie, da stehen zwei an. Wenn die Kälber einige Wochen alt sind, dann werden sie frecher und versuchen auch bei fremden Muttertieren Milch zu zapfen.“ Hans-Theo Werths liebt den Sommer. Wenn die Stammherde, zurzeit 74 Tiere, vor Vitalität nur so strotzt. „Sommer, das ist Leben pur.“ Dann ist die Herde energiegeladen.

Nachwuchs auf der Sommerkoppel
Foto: Reimann

Die Kälber müssen zusetzen. Sie kommen im Juni und Juli mit vier bis fünf Kilogramm Körpergewicht auf die Welt und sollten in wenigen Monaten das Fünffache zulegen. „Die Kälber müssen mit 25 Kilo in den Winter gehen, damit sie genügend Reserven haben.“ Mit der Fütterung von Rosinen, Maronen, Eicheln, Bucheckern und dem jungen, eiweißhaltigen Gras will der Züchter beste Bedingungen schaffen.

Die Damwildzucht Werths ist ein Familienbetrieb. Landwirtschaft an diesem Standort betreibt die Familie bereits in der fünften Generation. Hans-Theo Werths’ Urgroßeltern Wilberts hatten den Pitsch-Hof 1911 erworben. Seine Oma ist dort aufgewachsen. Sein Vater übernahm die Landwirtschaft. Und dann sollte Hans-Theo Werths ihn in vierter Generation übernehmen.

Milchkühe und Schweine hatten sie damals, bauten Gerste, Roggen, Weizen und Kartoffeln an. „Ein typischer Mischbetrieb also“, sagt Hans-Theo Werths. Milchkühe? Nichts für ihn. Als Anfang 2000 Damwild vom NRW-Landesverband der Wildhalter als landwirtschaftliches Nutzwild anerkannt wurde, sah der Maschinenbau-Ingenieur seine Chance: Er überzeugte seinen Vater von der Damwild-Zucht. „Meine Frau Anja und ich sind seitdem mit Herzblut dabei.“

6,39 Hektar Land bewirtschaften die Werths fürs Damwild. Es wirft genug Heu und Gras ab, um die Herde durchzufüttern. Vier Hektar sind direkte Weide. Im Sommer werden die Koppeln zur Virmondstraße genutzt, im Winter treibt Werths die Stammherde 160 Meter über einen dann geschlossenen Korridor über die Straße Am Bruch auf die Winterweiden. In Sicht der Ramshof und das Neersener Neubaugebiet Bernhard-Hüsers-Straße.

Im sogenannten Winter-Einstand halten sich zurzeit bereits einige Einjährige auf, die demnächst geschlachtet und verkauft werden. Anfang Oktober bis Mitte Dezember ist Schlachtzeit für die dann 15 bis 18 Monate alten Tiere.

Die Geburtenrate der Damtiere liegt auf die Neersener Herde bezogen bei 90 Prozent. Ab Oktober bis Anfang Dezember ist die nächste Brunftzeit. 234 Tage, etwa acht Monate lang, sind die Tiere trächtig.

In den Wintermonaten fährt das Damwild seinen Verdauungsmechanismus auf ein Drittel zurück, sagt Werths. Dann bewegen sich die Jungen wie die Alten wenig, liegen viel, „lassen sich gar einschneien“. Wenn man an solchen Winterabenden dann aufs Gelände schaue, erzählt Werths, „blicken einen 100 funkelnde Augen im Schnee an“.

Die Winterruhe sei wichtig. Baumkronen und Hecken bieten teilweise Sichtschutz zur umliegenden Wohnbebauung und Rückzugsmöglichkeiten. Spaziergänger, die 200 Meter entfernt ihre Runde laufen, stören das Damwild meist nicht. Die Tage um Silvester aber, sagt Werths, bedeuteten für die Tiere erheblichen Stress, wenn Böller knallen und Raketen in den Himmel schießen. „In einem Stall können wir die Herde nicht halten.“ Dort gebe es keine Ausweichmöglichkeit. Die Damhirsche könnten mit ihrem Geweih bei Panik andere Tiere erheblich verletzen.

Die Zucht fasziniert die Werths sehr. Sie haben etliche Lehrgänge gemacht, Grünland-Management, Anatomie der Tiere, Krankheiten, Altersstruktur der Herde — viel gibt’s zu bedenken und immer wieder abzustimmen.

Hans-Theo Werths besitzt den Jagdschein. Wenn er Tiere an andere Züchter vermittelt, betäubt er sie, um sie für den Transport in den Hänger legen zu können. Tiere, die geschlachtet werden sollen, werden aus dem Hochsitz am Hof aus Distanz erlegt, um den Stressfaktor für die Tiere so niedrig wie möglich zu halten.

Die Faszination für die Zucht, den Kreislauf, zieht Werths auch aus der häufigen Beobachtung seiner Herde. Er kennt seine Tiere, die ruhigen wie die hektischen. Hin und weg ist er immer, wenn er ihr „ausgeprägtes Sozialverhalten“ miterlebt. „Wenn ein Kalb vor Hunger fiept, laufen fünf Kühe hin.“

Könnte man gerade jetzt sehr genau beobachten. Herde gucken. Auch ohne Camping-stühlchen am Zaun.

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