So liebt der Niederrhein St. Martin: Der Superheld der Nächstenliebe

Kaum ein anderer Heiliger steht so für Mitmenschlichkeit wie Martin von Tours, der besonders in Kempen gefeiert wird.

So liebt der Niederrhein: St. Martin: Der Superheld der Nächstenliebe
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Kempen. Etwa im Jahr 335 soll es sich so zugetragen haben: Martin, Offizier der römischen Legion, begegnete vor dem Tor der französischen Stadt Amiens einem Bettler. Mitten im Winter stand der arme Mann ohne Kleidung vor dem stolzen Soldaten hoch zu Ross. Martin teilte seinen Mantel und gab dem Bettler eine Hälfte. Dieses Handeln machte ihn zu einem Heiligen: zu Sankt Martin, zu einer Art „Superheld der Nächstenliebe“.

Seit Jahrhunderten wird im November an diese Legende erinnert. In den Martinszügen laufen Kinder und Jugendliche mit ihren selbst gebastelten Fackeln hinter dem Heiligen Martin her, singen Lieder und feiern mit den Besuchern ein friedliches Fest. In Kempen sind die Martinsfeierlichkeiten mit zwei Zügen das wichtigste Ereignis im Jahr. Am 9. November sind mehr als 1000 Kinder dabei; am 10. November sind es sogar bis zu 4000 Schüler, die durch die Altstadt ziehen.

Beim sogenannten Kleinkinderzug am 9. November teilt Martinsdarsteller „Jüppi“ Trienekens gleich sechsmal den Mantel mit dem armen Mann (Christoph Dellmans). Er macht dies so oft, damit alle Kinder, die nach und nach aufrücken, diesen Akt der Nächstenliebe sehen können.

Das Handeln von Martin ist aus Sicht des evangelischen Pfarrers Michael Gallach das ideale Beispiel für die Nächstenliebe. „Jemand, der einem Menschen in einer Notlage hilft, ist nicht wählerisch. Nächstenliebe basiert nicht auf Gleichheit. Man sieht die Not eines anderen Menschen und hilft, ohne zu zögern. Und genau das hat Martin getan. Ohne Rücksicht auf seine Stellung als römischer Offizier hat er einem Obdachlosen geholfen“, sagt Gallach.

So stehe es auch in der Bibel, wie der Theologe erklärt: „Jesus fragt nicht danach, wer es ist, der die Hilfe bekommt. Sondern nur danach, was derjenige braucht“, sagt der Pfarrer. Es gehe um die konkrete Notlage und nicht darum, wie und warum der Notleidende in diese Situation gelangt sei.

Diesen Aspekt unterstreicht Andreas Bodenbenner, Gemeindereferent der katholischen Gemeinde St. Mariae Geburt und Notfallseelsorger im Kreis Viersen: „Es spielt keine Rolle, wer da gerade vor einem steht.“ Beim Wort „Nächstenliebe“ denke man zwar möglicherweise zunächst an „seine Nächsten“ (Lebenspartner, Freunde, Kinder). „Es geht aber um den Menschen, der einem begegnet und jetzt Hilfe braucht. Das hat Jesus uns so auf den Weg gegeben.“

Der biblische Begriff der Nächstenliebe und damit auch das Beispiel von St. Martin sind aus Sicht von Michael Gallach aktueller denn je. „Darum geht es für unsere Gesellschaft auch in der Flüchtlingsfrage. Wir müssen Menschen helfen. Dabei spielt es keine Rolle, wo sie herkommen und warum sie fliehen mussten“, so Gallach.

Daher sei es beispielsweise für die evangelische Gemeinde selbstverständlich gewesen, jeden Freitag die Kirche für das Flüchtlingscafé „Treffpunkt Asyl“ zu öffnen. Es gehe in erste Linie nur um eine Frage: „Was brauchen diese Menschen hier und jetzt?“

Im Zusammenhang mit St. Martin und Kempen hat sich in den Gedanken von Michael Gallach auch ein Negativ-Beispiel in Sachen Nächstenliebe verankert: „Wir erfahren aus den historischen Ausarbeitungen von Hans Kaiser, dass der Kempener Martinszug 1938 nur wenige Stunden nach den schrecklichen Ereignissen der Pogromnacht gezogen ist.“ Kinder hätten damals an abgebrannten Teilen der Synagoge und den Trümmern jüdischer Geschäfte vorbeiziehen müssen, um Loblieder auf St.Martin, das Sinnbild der Nächstenliebe, zu singen. „Aus meiner Sicht hat damals bei vielen die Nächstenliebe auf schreiende Weise versagt.“

Andreas Bodenbenner hält das Handeln von St. Martin für ein gutes Beispiel für Nächstenliebe. „Allerdings muss es uns gelingen, den eigentlichen Sinn des Festes immer wieder klarzumachen“, sagt der Notfallseelsorger. Es gehe um die Hilfe, um die Teilung des Mantels. „Dazu kann man zwar ein großes Fest mit einem schönen Fackelzug feiern. Der Anlass sollte aber immer im Mittelpunkt stehen“, so Gemeindereferent Bodenbenner.

Dem evangelischen Theologen ist beim Thema Nächstenliebe ein Aspekt besonders wichtig: „Bei uns ist die Nächstenliebe sogar gesetzlich verankert. Schließlich gibt es den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung.“ Die gesetzliche Verankerung gebe es längst nicht in jedem Staat.

Pfarrer Gallach: „Diese wichtige Errungenschaft müssen wir immer weiter verteidigen.“

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