Unheilbare Krankheit Tourette: Ein Leben mit Tics

Bei Olaf Blumberg (31) ist die unheilbare neuropsychiatrische Krankheit vor zehn Jahren ausgebrochen. Pfarrer Kamm ist ihm in der Zeit ein enger Vertrauter geworden.

Unheilbare Krankheit: Tourette: Ein Leben mit Tics
Foto: Verena Neumann

Vorst. Er war Anfang 20, als Olaf Blumberg aus seinem bis dahin geführten Leben schonungslos hinauskatapultiert wurde. An einem sonnigen Spätsommersonntag, auf einer Joggingrunde, begann der junge Mann unwillkürlich — und ohne dass er sie in ihrer Lautstärke beeinflussen oder unterdrücken konnte — Bellgeräusche von sich zu geben. Er kläffte in aller Öffentlichkeit „wie ein tollwütiger Terrier“.

Für den Sport- und Germanistik-Studenten, der an der Universität Bochum eingeschrieben war und Lehrer werden wollte, wurde die Laufrunde zum Horrortrip. „Ich hatte keinen blassen Schimmer, was gerade mit mir passierte“, beschreibt er die damals aufkommende Panik, es war „so über die Maßen befremdlich, als hätte eine unbekannte Macht Besitz von mir ergriffen“.

Erst Wochen später bekam dieser innere Dämon einen Namen: „Tourette.“ Eine nach jetzigem Stand der Forschung unheilbare neuropsychiatrische Krankheit.

Olaf Blumberg ist heute 31 Jahre alt. Seit zwei Jahren wohnt er in Vorst. Pastor Ludwig Kamm ist sein Vertrauter, Freund und unaufdringlicher Ratgeber. Kennengelernt haben sie sich über das Internetforum www.tourette.de. Dort hatte Olaf von seiner Situation geschrieben. „Die häufigsten, (. . .) kenntnisreichsten Kommentare“ darauf stammten damals von einem gewissen Ludwig, „stets unterstützend und motivierend, nie jedoch bemitleidend“. Kamm selbst war von einem Freund, der Tourette hat, auf das Forum aufmerksam gemacht worden.

2013 hat Blumberg ein Buch über sein „Leben mit Tourette“ veröffentlicht. „Ficken sag ich selten“ heißt es. Titel und Thema haben Aufmerksamkeit erregt. Olaf Blumberg wurde in Talkshows eingeladen, saß bei Markus Lanz im Studio.

Olaf Blumberg über die Freundschaft zu dem Vorster Pfarrer

Antrieb für Auftritte im Scheinwerferlicht war die hohe Aufmerksamkeit, die Blumberg nach Phasen purer Verzweiflung durchaus zu genießen wusste. Er wollte über die Krankheit reden, um für Verständnis und Toleranz werben. „Vor sechs Jahren kannten drei von zehn Leuten, mit denen ich ins Gespräch kam, Tourette. Heute sind es dank der kontinuierlichen Berichterstattung fünf.“

Der Alltag mit der ihn und andere kränkenden, verstörenden Krankheit ist kein Spaziergang. Die Tics lassen sich nicht mit Pillen ausschalten, wie ein Kopfschmerz nach Einnahme einer Tablette. In der Öffentlichkeit bleibt er auf der Hut, wendet die „Halbe-Stunden-Regel“ an: Menschen, mit denen er im Bus, Zug oder Kino länger als 30 Minuten zusammen sein wird, erzählt er von der Krankheit, den Tics, davon, dass er sie nicht steuern kann.

Bellen und Jaulen verstören oder amüsieren Leute. Beim Wort „Fotze“ wenden sich viele befremdet ab. Wenn er derb schimpft oder „Heil Hitler“ ruft, was ihm regelmäßig passiert, eckt er an, provoziert zuweilen bedrohliche Situationen. Das Leben mit Tourette hat Blumberg aber besondere, aufrichtige Begegnungen beschert, mit Menschen, die sich von seinen Tics nicht beirren lassen, selbst fieseste Beleidigungen nicht ernst und schon gar nicht persönlich nehmen. Lange hat Olaf Blumberg gegen den unberechenbaren Feind in seinem Innern gekämpft; darum gerungen, sein Leben mit diesem Satansbraten zu akzeptieren. „Jetzt haben wir so etwas wie Waffenstillstand geschlossen.“

Olaf Blumberg über seine Tics durch die Krankheit Tourette, über Bellgeräusche, Zuckungen und die Angst, sich selbst zu verletzen

In Vorst sei er zur Ruhe gekommen. Dorthin hat er sich zurückgezogen, als sich der Stress vor seiner Abschlussarbeit im Fach Sozialpädagogik verdichtete, die Tics zunahmen. Ludwig Kamm sei ihm immer noch ein „sehr wertvoller“ Freund. Mit Ludwig könne man gut reden, streiten, aber auch schweigen.

Als hilfreich erfährt Blumberg das Meditieren. Er macht sich mit Zen-Buddhismus vertraut, einem Zustand meditativer Versenkung. „Ich war noch nie so davon überzeugt, dem inneren Frieden so nahe zu sein, wie in dieser Zeit.“

Die gelegentliche Zwiesprache mit Gott, durch die er auch innere Stärke gewonnen hat, behält er bei. Sie ist „tröstend, betrauernd, aber auch vorwerfend“. Olaf Blumberg hat sich vor ein paar Jahren von Ludwig Kamm in der Pfarrkirche St. Godehard taufen lassen. Blumberg hat Pläne. Er hat sein Studium der Sozialarbeit in Paderborn als staatlich geprüfter Sozialpädagoge abgeschlossen. Den gebürtigen Berliner zieht es in eine Großstadt zurück. Dort will er eine Stelle suchen, künftig mit geistig und körperlich behinderten Kindern arbeiten. „Vorher muss ich eine Parterrewohnung finden.“ Eine, in der Tics wie das Aufstampfen mit dem Fuß keinen Nachbarn stören.

Nach dem ersten Bellen auf der Joggingstrecke vor fast zehn Jahren hatte Olaf Blumberg „dringend jemanden“ ersehnt, „der mir sagt, dass alles wieder gut wird“. Heute weiß er, dass er Helfer hat. Aber auch, dass er sein bester Anwalt in eigener Sache bleiben muss, wenn das Leben mit Tourette seine schlechten Tage hat.

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