„Erzählt meine Geschichte weiter“

Auf Einladung des Michael-Ende-Gymnasiums war Eva Weyl in St. Tönis. Sie erzählte ihre Familiengeschichte als niederländische Jüdin unter der nationalsozialistischen Besatzung.

„Erzählt meine Geschichte weiter“
Foto: Norbert Prümen

Tönisvorst. Eva Weyl steht auf der Bühne des Schulzentrums Corneliusfeld und erzählt ihre Überlebensgeschichte. Es ist die Geschichte einer jüdischen Familie in Deutschland und in den Niederlanden vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Eva Weyls Vita wird zu einem Lebensauftrag für jeden einzelnen ihrer Zuhörer. Einen, den die Neuntklässler des Michael-Ende-Gymnasiums im Kopf und im Herz behalten sollen. „Es gibt uns bald nicht mehr. Wir brauchen euch als Zweitzeugen. Ihr müsst meine Geschichte weitererzählen“, sagt Weyl mit eindringlicher Souveränität.

Sie fordert immer wieder Wachsamkeit vor politischem Extremismus ein. „Ihr“, wendet sie sich an die Jugendlichen, „ihr seid nicht verantwortlich für die deutsche Vergangenheit, sondern für die deutsche Zukunft. Daher gut, gut nachdenken. Trefft die richtige Wahl im Leben.“

Es sei ihr Antrieb, so viele Schulen wie möglich aufzusuchen. Sie fährt bevorzugt in kleinere Städte, um die Erinnerung an das, was geschehen ist, wachzuhalten. Und von ihren Zuhörern die politische und gesellschaftliche Verantwortung für das, was kommen wird, einzufordern. „Nie wieder Auschwitz!“

Eva Weyl ist 83 Jahre alt. Geboren 1935 in Arnheim, Tochter deutscher Juden, die sich bereits ein Jahr zuvor dazu entschlossen hatten, Kleve zu verlassen, weil sie sich nach Adolf Hitlers Aufstieg nicht mehr wohl im eigenen Land fühlten. Eva Weyls Vater baute in Arnheim einen großen Textilladen, ein sogenanntes Meterwarengeschäft auf.

Eva war fünf Jahre alt, als der Krieg in die Niederlande kam, zehn, als er zu Ende ging.

„Meine Eltern und ich haben überlebt. Meine Großväter auch.“ Sie erzählt anschaulich von den Jahren im niederländischen Durchgangslager Westerbork, in das die deutschen Besatzer Juden, die in den Niederlanden lebten, brachten.

„Dreieinhalb Jahre blieben wir in Westerbork.“ Sie als Kind sei ahnungslos gewesen. „Ich habe nur gewusst, ich bin gefangen, umgeben von Stacheldraht. Aber meine Eltern waren da. Wir hatten zu essen, ich ging in die Schule, konnte spielen.“ Geschichten, in den Osten deportierte Juden würden ermordet, wurden als Gräuelmärchen abgetan. „Es war unvorstellbar.“

Das lag, erzählt Eva Weyl, auch an dem „perfiden“ Vorgehen des damaligen Lagerkommandanten, Albert Konrad Gemmeker aus Düsseldorf. Er habe dafür gesorgt, dass alle Juden im Lager Arbeit hatten, regelmäßig Mahlzeiten einnehmen konnten, medizinisch versorgt wurden, durch Kabarett und Orchester Zerstreuung fanden. „Es war eine reine Scheinwelt, die er geschaffen hat, um die Juden ruhig zu halten.“ Verwandte durften Päckchen schicken, Käse, Kleidung, Pfannen: „Alles für die Ruh’“.

Sie hätten sich dadurch „wie die Lämmlein“ zu den Zügen treiben lassen. 97 Bahnschwellen auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Westerbork seien heute Zeugnisse der Transporte in den Osten. „Jeden Woche wurden Listen mit Namen veröffentlicht.“

Familie Weyl hatte zwei Mal Glück. Einmal strich ein Bekannter, der in der Administration arbeitete, ihre Namen für den nächsten Transport. Ein anderes Mal standen sie schon am Zug, als Bomber der Alliierten über das Lagergelände flogen, weil sie dachten, dass der hohe Schornstein zu einer deutschen Fabrik gehörte. „Alle stoben auseinander. Danach war die Liste verschwunden“, erzählt Weyl. Die Angst ihrer Eltern habe sie nie mitbekommen. Sie selber habe mal gefragt: „Wo ist Sarah?“ und zur Antwort bekommen: „Die ist mit dem Zug weg.“

107 000 Juden lebten laut Weyl in den Kriegsjahren in Westerbork, 102 000 wurden von dort nach Auschwitz, Sobibor, Theresienstadt und Bergen-Belsen abtransportiert. „Wir waren unter den Überlebenden“, sagt Weyl.

Nach 1945 baute ihr Vater das Textilgeschäft in Arnheim wieder auf. Sie verbrachte als 18-Jährige ein Jahr in den USA bei Verwandten. „Danach studierte ich in der Schweiz.“ Sie heiratete, bekam zwei Söhne. Nach ihrer Scheidung kehrte sie in die Niederlande zurück. Heute lebt sie in Amsterdam.

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