Anrath Eine unglaubliche Geschichte

Gregor Höppner, Regisseur des Films „Anrath“, erzählt, wie er zu dem Stoff kam und wie er ihn letztlich umsetzte.

Anrath: Eine unglaubliche Geschichte
Foto: Dirk Jochmann

Anrath/Krefeld. Die Geschichte klingt zunächst unglaublich. Vielleicht ist sie das auch. Aber sie hat den Regisseur Gregor Höppner nicht mehr losgelassen: Im September 1944 wird eine Jüdin aus einer „Mischehe“ von einem Gestapo-Offizier auf der Herrenstange seines Fahrrads von Anrath nach Krefeld zum Deportationszug gebracht. Über diese ungewöhnliche Radfahrt hat Höppner nun einen packenden Kurzfilm gedreht. Eine Kopie dieses Filmes, der schlicht „Anrath“ heißt, soll über die Landesmedienzentrale zur Verfügung gestellt werden, damit Schulen sich diesen ausleihen können.

Gregor Höppner, Regisseur des Films „Anrath“.

Die Erwähnung dieser Geschichte las Höppner zum ersten Mal in einem Buch von Eric Johnson. „Dieses Bild hat mich dann nicht mehr losgelassen“, erzählt der gebürtige Berliner. „Das Fahrrad, das ja eigentlich für Freiheit und Unabhängigkeit steht, im Kontrast zum Ausführen von Befehlen in einer Diktatur.“ Tatsächlich wurden ab 1944 die letzten Deportationen vorgenommen, von denen auch Juden aus sogenannten Mischehen betroffen waren.

„Ich habe dann intensiv recherchiert, wo diese Geschichte herkommt“, so Höppner, der bald darauf auf die Briefe der Villa Merländer an der Friedrich-Ebert-Straße in Krefeld stieß. Es kam heraus: Eric Johnson hatte sich mit der Zeitzeugin Lore Gabelin getroffen, die diese Geschichte über eine Frau, die per Fahrrad deportiert wurde, erzählt hatte. „Lore Gabelin war uns bekannt, ihr ältester Sohn engagiert sich auch hier im Verein“, erklärt Ingrid Schupetta, die Leiterin der NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld in der Villa Merländer. „Die Geschichte als solche konnten wir allerdings nicht verifizieren.“ Es wird vermutet, dass es sich bei der Frau um die Schwiegermutter der bereits verstorbenen Lore Gabelin handelt, die nach Ende des Krieges in die USA auswanderte und bald darauf verstarb. Auch die Bemühungen der Familie um einem Nachweis der Geschichte blieben erfolglos. Und so wird hier deutlich, wie viele Geschichten zusammen mit jenen verschwinden, die sie erzählen konnten.

Jedoch, Gregor Höppner ließ sich nicht davon abhalten, aus dem Stoff einen Film zu machen. „Die Geschichte ist auch fiktional sehr tragfähig.“ Und so machte er sich auf die Suche nach Drehorten am Niederrhein, die dem äußeren Anschein des Jahres 1944 gerecht werden. Fündig wurde er in Süchteln und am Ursprungsort der Geschichte, in Anrath.

„Ich habe den Niederrhein lieben gelernt. Uns wurden Türen und Herzen geöffnet, und gegangen bin ich mit unzähligen Geschichten, die ich auch alle gerne verfilmen würde.“ Eine Herausforderung während der Dreharbeiten waren die vielen Geräusche, die heute kaum mehr bewusst wahrgenommen werden: Autobahnen, Flugzeuge, Feldmaschinen. Das eine oder andere Windrad musste digital in der Postproduktion entfernt werden.

Und so fand diese außergewöhnlich Geschichte Platz in einem außergewöhnlich gelungenen Film. Ein pensionsreifer Schutzpolizist bekommt von seinem Ortsgruppenleiter unter dem Geheul der Sirenen des Fliegeralarms einen Deportationsbefehl in die Hand gedrückt. Der Ortsgruppenleiter verlässt sein Zuhause mit seiner Familie. Nun soll der Polizist die etwa gleichaltrige Jüdin aus Anrath zum Zug bringen.

„Die Geschichte ist voller Auswege“, beschreibt Höppner seinen Film. „Zuerst ist das Motorrad, das der Ortsgruppenleiter dem Polizisten anbietet, kaputt. Er hätte es da schon sein lassen können. Dann hätte die Frau mehrfach fliehen können, was sie nicht tat. Das Rad hat einen Platten, beim Reparieren fällt unbemerkt eine Mutter auf den Boden, die sie ihm dann zurückgibt.“ Zwischen den beiden entsteht eine zarte Verbindung, die den Befehl konterkariert. Er bietet ihr von seinem Brot an, sie reicht ihm ihr Taschentuch für seine Stirn. Gesprochen wird nur wenig in diesem Film. Auch die leise Klaviermusik wird sparsam eingesetzt. „Entscheidend ist, dass keiner dieser Auswege im Film genutzt wird“, findet Ingrid Schupetta. „Mit einem Happy End würde man der historischen Wirklichkeit sicher nicht gerecht.“

Und so fahren die beiden weiter durch die niederrheinische Landschaft, zunehmend wirken sie wie unbeschwerte Ausflügler. Er legt Teile seiner Uniform ab, ihr Haare wehen im Wind, und hin und wieder huscht ein Lächeln über die Gesichter der beiden.

Doch die unglückliche Fügung, die diese gemeinsame Fahrt hat entstehen lassen, bahnt sich unaufhaltsam ihren Weg. Und so findet sich der Schutzmann zum Schluss am Bahnsteig wieder, wischt sich die Stirn, begreift, dass es ja ihres ist, setzt an, es ihr zurückzugeben, und verharrt in einer unbestimmten Pose zwischen dem Winken zum Abschied und einer großen Ratlosigkeit.

Ein starker Film, der sehr nahe geht. Und dieser Nähe kann sich niemand entziehen. Genauso, wie man sich der Nähe zu zweit auf einem Fahrrad nicht entziehen kann.

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