„Sucht ist keine Erkältung“

Jährlich werden in der Fachklinik Velbert-Langenberg 2300 Suchtkranke behandelt — die Hälfte mit Erfolg.

Kreis Mettmann. Wenn Dieter Hänsler (Name von der Redaktion geändert) zu einer Party fährt, beginnt das Zittern immer schon im Auto. Sein Herz schlägt schneller, die Hände werden feucht. Betritt er den Partyraum und trifft auf viele Menschen, wird er rot. Worte wollen nicht aus seinem Mund kommen. Alles ist verkrampft.

Nach dem zweiten Bier ist Dieter Hänsler schon lockerer, nach dem dritten ist die Nervosität wie weggeblasen. Und so macht Hänsler es auch in anderen Situationen, in denen er auf viele Menschen trifft — sei es, wenn sich die Kollegen zur Betriebsversammlung treffen, oder er in die Stadt gehen muss — der Alkohol wird zum Begleiter, der das Leben einfacher macht.

Geschichten wie die von Dieter Hänsler kennt Dr. Thomas Reinert zu Tausenden. Er ist seit 15 Jahren Chefarzt der Fachklinik für Suchterkrankungen in Velbert-Langenberg, die seit 1978 besteht. Jährlich nimmt die Klinik 2300 Patienten aus dem Kreis Mettmann und dem Umland auf. Ihre Gemeinsamkeit: Sie sind abhängig, meistens von Alkohol, aber auch von Medikamenten und illegalen Drogen.

Hat sich ein Alkoholiker entschieden, Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, kann er sich in der Ambulanz der Fachklinik anmelden. Dr. Reinert: „Die meisten Patienten kommen aus eigener Motivation, was die Chance, dass die Therapie erfolgreich ist, steigert.“

Was folgt, nennt der Fachmann „eiskalten Entzug“. Von heute auf morgen gibt es keinen Tropfen mehr. „Allerdings können wir mit Medikamenten die Symptome lindern, so dass es nicht unerträglich wird“, sagt Dr. Reinert.

Der Chefarzt betont, dass der Weg in ein Leben, das nicht von Drogen bestimmt wird, ein langer ist. „Denn der Alkoholkonsum ist nicht das, was wirklich krankhaft ist. Es ist nur Symptom und Folge eines Signals, das vom Suchtzentrum im Gehirn ausgeht — und das noch Jahre, nachdem der Alkoholiker längst trocken ist, bei jedem Glas Bier, bei jedem Schnaps.“

Hinter der Sucht verbergen sich psychologische Probleme: der eine fühlt sich in Gruppen unwohl, der nächste ist nicht konfliktfähig, der andere hat Angst vor Bindung. „Der Alkohol ist dann eine Art vermeintliches Selbsttherapeutikum, mit dem auf einmal scheinbar alles besser funktioniert“, sagt Dr. Reinert.

Innerhalb von drei Wochen finden die Ärzte in der Fachklinik durch Gespräche heraus, welche Grundstörung vorliegt. „Das macht es einfacher für uns und für den Patienten, die richtige Therapie nach der Entlassung zu finden.“ Was folgt, ist die Ursachenforschung. Dr. Reinert: „Das ist bei jedem unterschiedlich und hängt mit der Lebensgeschichte des Einzelnen zusammen.“

Ein Jahr nach der Entwöhnung sind sechs von zehn Patienten trocken geblieben, nach fünf Jahren sind es noch vier. „Das mag für viele nach einem schlechten Therapieergebnis klingen. Aber wir finden, dass dies eine sehr gute Quote ist. Sucht ist eben keine Erkältung, sondern eine sehr hartnäckige Erkrankung.“

Den Erkrankten zu behandeln, sei die eine Sache, sagt Dr. Reinert, „aber wichtig ist auch, dass die Angehörigen betreut werden.“ Damit spricht der Chefarzt das Phänomen der Co-Abhängigkeit an. „Das ist dann der Fall, wenn die Ehefrau ihren alkoholkranken Mann immer aus der Kneipe oder von der Polizeiwache abholt, wenn er dort zum Ausnüchtern gelandet ist.“

Wichtig sei, dass die Angehörigen aufhören, den Erkrankten in Schutz zu nehmen. Nur dann könne dieser von der Realtität eingeholt werden. „Und das ist nötig, damit sie zur Einsicht kommen, dass sie Hilfe brauchen.“

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