Ein Sonntag ohne Familie ist eine soziale Katastrophe

Der Rat diskutiert kommende Woche über die verkaufsoffenen Sonntage. Diakon Michael Anhut spricht im Interview über Konsum und Sonntagsruhe.

Ein Sonntag ohne Familie ist eine soziale Katastrophe
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Wülfrath. Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat kürzlich entschieden, dass das Kinderfest in Neviges kein ausreichender Anlass war, einen verkaufsoffenen Sonntag durchzuführen. Der Beschluss könnte Folgen auch für viele andere Städte haben. In der kommenden Woche wird auch der Wülfrather Stadtrat über die verkaufsoffenen Sonntage diskutieren. Diakon Michael Anhut spricht über die Sonntagsruhe und den Konsum.

Ein Sonntag ohne Familie ist eine soziale Katastrophe
Foto: Janicki

Immer mehr Menschen arbeiten am Sonntag. Ist das eine Gefahr für das Kerngeschäft der Kirchen, das üblicherweise sonntags stattfindet?

Michael Anhut: Viele Menschen arbeiten am Sonntag. Nicht nur wir Seelsorger, sondern auch und vor allem Ärzte, Krankenschwestern, Pflegeberufe, Polizei und Feuerwehr. Das sind alles dem Menschen zugewandte Berufe — also ein zutiefst christliches Verhalten, ohne diese Menschen jetzt vereinnahmen zu wollen. Genau dafür gibt es ja die Vorabendmessen am Samstag. Wer also am Wochenende die Heilige Messe besuchen will, kann das auch tun.

Der Sonntag ist der Tag, an dem der Herr ruhte: Die Sonntagsruhe ist tief in den religiösen Ritualen verwurzelt. Kann sie gegen den ökonomischen Druck bestehen?

Anhut: Ich glaube, dass Kirche sich genau diese Frage nicht stellen sollte. Ansonsten wäre sie gezwungen, ein „besseres“ Angebot zu machen. Das wiederum würde dann aber genau den gleichen Zwängen unterliegen wie alle anderen Angebote — es wird beliebig. Wer glaubt, dass es mehr gibt als das, was man messen, zählen oder wiegen kann, der braucht etwas anderes als konsum- oder freizeitorientierte Angebote.

Arbeiten oder Shoppen: Für immer mehr Menschen wird der Sonntag ein Tag wie jeder andere. Kann und sollte eine moderne Kirche diesen Weg mitgehen?

Anhut: Nein. Auch eine moderne Kirche — was immer das sein mag — kann sich ja nicht selbst verleugnen. Unser Thema ist Verkündigung froher Botschaft an konkreten Orten in der heutigen Zeit und den heutigen Menschen. Und dass nicht nur, aber eben vor allem am Sonntag — dem Tag des Herrn. Die evangelische Kirche hat es einmal so beschrieben: „Ohne Sonntag ist alle Tage Werktag“.

Verkaufsoffene Sonntage, Internetshopping, veränderte Ladenöffnungszeiten: Der Trend geht zum Konsum rund um die Uhr. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Anhut: Wenn ich 100 Euro ausgeben kann, werden es ja nicht mehr, nur weil ich mehr Zeit zum Einkaufen habe. Die Frage hinter allem ist doch: Muss ich wirklich zu jeder Zeit alles kaufen können, und das auch noch zum günstigsten Preis? Und: Macht das wirklich glücklich? Dass der Einzelhandel dem existenziellen Druck mit attraktiven Angeboten zu begegnen versucht, wie beispielsweise verkaufsoffenen Sonntagen mit Rahmenprogramm, kann ich allerdings gut verstehen.

Das Wochenende verliert zunehmend seine Eigenschaft als Schutzzone. Mit welchen Konsequenzen für das Seelenleben des Einzelnen und das soziale Miteinander?

Anhut: Die Väter des Grundgesetzes haben ja nicht nur die Religionsausübung, sondern die „seelische und körperliche Erbauung“ durch den arbeitsfreien Sonntag und die Feiertage im Blick gehabt, als sie diese Teile aus der Weimarer Verfassung von 1919 übernommen haben. Es geht um physische und psychische Regeneration. Wenn ich heute 30-Jährige mit Hörsturz und 35-Jährige mit Burnout erlebe, dann halte ich das für sehr weitsichtig. Und wenn Familien nicht einmal mehr am Sonntag zusammen kommen können, dann ist das in meinen Augen eine soziale Katastrophe.

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