20 Jahre in den Brennpunkten der Stadt

Als Neviges noch ein Junkie-Treffpunkt war, erfand Erich Dreke den Streetworker-Bus. Mit der WZ blickt er auf eine bewegte Zeit zurück.

20 Jahre in den Brennpunkten der Stadt
Foto: Simone Bahrmann

Neviges. Erich Dreke kennt Neviges von seiner rauen Seite. Als der Streetworker vor 20 Jahren seinen Dienst in dem Domstädtchen aufnahm, gab es auf der Straße Probleme, wie man sie häufig nur aus Großstädten kennt. Dreke erinnert sich: „Nachdem das Jugendhaus an der Wilhelmstraße geschlossen wurde, trafen sich ab 1993 täglich mehr als 100 Jugendliche am Busbahnhof Neviges.“ Heroin und Kokain vergifteten den Treffpunkt. „Wir hatten fast 40 richtig heftige Junkies“, berichtet Erich Dreke.

In jahrelangen Bemühungen holte der heute 63-Jährige die Jugendlichen aus dem Drogensumpf und sorgte dafür, dass der Junkie-Treffpunkt sich auflöste. Es ist die kleine stille Erfolgsgeschichte eines Einzelkämpfers mit einem Bus, einem guten Netzwerk und einer Handynummer, die niemals gewechselt werden darf, weil hunderte Velberter Jugendliche sie kennen.

Der gebürtige Potsdamer hatte alles andere als einen leichten Einstieg: Sein Vorgänger wurde von einer brutalen Jugendgruppe, den „Kostenberger Streetfightern“, krankenhausreif geprügelt. „Danach wollte die Stadt einen handfesten Streetworker“, sagt Dreke. Der Profiboxer, der früher in der zweithöchsten DDR-Liga kämpfte, schien der Richtige für den Job zu sein. Mit einer Regel ist Dreke bis zum heutigen Tag gut gefahren: „Man darf keine körperliche Schwäche zeigen.“

Mit dieser Einstellung traute sich Dreke überall hin. So suchte er nicht nur Kontakt zu den „Streetfightern“, deren Mitglieder damals sogar einem Busfahrer in den Kopf geschossen hatten , sondern auch in die Stammkneipe der damaligen rechtsradikalen Gruppierung Siepensturm. „Das ist wirklich gewöhnungsbedürftig, so nah mit Menschen zu arbeiten, die so offen Gewalt ausleben“, berichtet der studierte Berufsschullehrer.

Das Geheimnis seines Erfolgs: ein „akzeptierender Ansatz“. Dreke erklärt: „Ich nehme die Jugendlichen so wie sie sind und verändere erst einmal gar nichts.“ Erst bei bestehender Vertrauensbasis können gewisse Ziele erreicht werden. Den pädagogischen Zeigefinger lässt Dreke stecken.

Nur so konnte er damals die Jugendlichen in seinen berühmten Streetwork-Bus holen. „Ich stellte schnell fest, dass ich zu Fuß wenig erreichen kann. Jugendliche brauchen ein Quartier“, sagt Dreke. So kam ihm die Idee zu diesem rollenden Jugendtreff. Seit 1997 steht das Fahrzeug, heute ein ehemaliger Mannschaftsbus von Hansa Rostock, an vier sozialen Brennpunkten im Stadtgebiet. Auch noch in Neviges.

Doch die Arbeit hat sich verändert. Während früher noch regelmäßig reges Treiben im Bus herrschte, kommen heute noch maximal 20 bis 30 junge Leute zu den Terminen, die es nur noch zwei Mal die Woche gibt. „Das Freizeitverhalten hat sich geändert“, weiß Dreke. Es gibt einfach weniger Jugendliche auf der Straße — das Internet hält den Großteil zu Hause beschäftigt. An die Stelle von harten Drogen tritt hier und da die Onlinesucht.

Die Aufgaben für die Jungs und Mädchen aus insgesamt 26 Nationen, die Erich Dreke heute in seinem Bus betreut, sind aber im Schwerpunkt andere: Wie kriege ich eine Ausbildung? Wie kriege ich einen Job?

Die Wunderwaffe des Streetworkers ist der Arbeitskreis Jugend, ein einmaliger Zusammenschluss aus Rotariern und Lions-Club. Besondere Problemfälle stellt Dreke dem Gremium vor und erhält auf diesem Wege die finanzielle Unterstützung.

So wurden über die Jahre Entgiftungen, nachträgliche Schulqualifizierungen und Mittagessen für bedürftige Jugendliche möglich. Der heutige Boxkampfrichter macht aber auch deutlich: „Wenn ich mich einmal für jemanden verbürge, muss der es dann auch durchziehen.“

Seinen Schützlingen bleibt Dreke verbunden. So hat er über die Jahre rund 500 Kontakte zu Menschen angesammelt, deren Lebensweg er im Auge behält. Darunter auch die einstigen Nevigeser Junkies, die heute in alle Himmelsrichtungen verteilt wohnen. „Das ist ein tolles Gefühl, wenn man die dann mit ihren Familien wieder trifft“, sagt er. Das sei eine Bestätigung, die Dreke in seinem Job leider nur selten bekomme. Der Streetworker macht ein verständnisvolles Gesicht: „Klar, ein Danke gibt es natürlich nicht von den Kids.“

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