Nach der Kutsche kam die Eisenbahn

Der Bahnhof Gruiten feiert in diesem Jahr sein 175-jähriges Bestehen. Schnell wurde er Treffpunkt.

Gruiten. Mit der Eisenbahn fahren? Um Himmelswillen? Nie und nimmer wäre der Haaner Postbote Jakob Litsch in dieses funkensprühende Monster gestiegen. „Wer mit dem Ding fährt, der kann vorher sein Testament machen“, lässt er die Nachwelt wissen. Dabei war die Sache mit der Eisenbahn für die Gruitener damals eigentlich eine ganz große Nummer.

Als vor 175 Jahren die ersten Lokomotiven zwischen Düsseldorf und Elberfeld auch im Dörfchen haltmachten, war die große weite Welt plötzlich ganz nah. Mal eben nach Erkrath? Kein Problem! Was früher nur zu Fuß oder mit der Pferdekutsche zu bewältigen war, wurde zum Ziel spontaner Sonntagsausflüge. Die Wochenenden wurden auch für die Daheimgebliebenen zum Abenteuer, nachdem ganze Scharen ambitionierter Wanderer aus dem Zug stiegen, um auf dem Weg zur Winkelsmühle durchs Örtchen zu pilgern. Mit der Eisenbahn war für die Gruitener auch in ganz anderer Hinsicht eine neue Zeitrechnung angebrochen. „Plötzlich gab es im Dorf oben und unten“, blickt Lothar Weller auf ein Phänomen zurück, dass sich über Jahrzehnte hinweg ziemlich hartnäckig in den Köpfen der Dörfler einnisten sollte. Dazu muss man wissen, dass die Bahnstrecke damals keineswegs durch den Ort, sondern übers freie Feld geführt wurde.

Es gab quasi Gruiten-Dorf und irgendwo da draußen auch noch den Bahnhof. Das sollte sich bald ändern, denn mit der Bahn kamen Zuzügler und mit ihnen neue Häuser, Straßen und Geschäfte. Ein ganzes Viertel entstand um den Bahnhof herum und für die eingesessenen Gruitener waren das „die da oben“. Fortan ging dort im wahrsten Sinne des Wortes die Post ab. „Das war für die Leute eine andere Welt“, glaubt Lothar Weller. Als Hobbyhistoriker weiß er, wovon er spricht. Bis heute verwahrt der Gruitener Geschichtsstammtisch das örtliche Archiv, das bis heute Zeugnis ablegt über das muntere Treiben. Nach dem Bau des Bahnhofs hatte es nicht lange gedauert, bis die neu gebauten Straßen von Telegraphenleitungen und Masten für die Stromversorgung gesäumt wurden. Unweit des Bahnhofs sorgten die tierischen Bewohner einer Ziegenbockstation dafür, dass das Straßenbegleitgrün nicht alles überwucherte. Während der Gasthof „Zur Post“ mit beschwingten Tanzabenden und zuweilen auch mit weniger heiteren, nächtlichen Schlägereien von sich Reden machte, florierten ringsum die Geschäfte. Bäckereien, eine Kaffeerösterei, eine Kohlenhandlung mit Bierverlag: Für ein kleines Dorf war das eine ziemlich große Sache. Derweilen wurde der Bahnhof nicht nur für die Reisenden, sondern auch für die Gruitener selbst zum Anlaufpunkt. Schließlich war die Gaststätte ein guter Ort, um über Taubenzucht zu plaudern oder politische Debatten auszufechten. Der Arzt, der Junglehrer der Volksschule und die Gemeindeschwester: Sie alle gehörten in den 1930er Jahren zur Stammkundschaft beim Mittagstisch.

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