Reportage: Der Alltag eines Chirurgen

Zwischen OP-Saal und Büro: WZ-Reporterin Ines Arnold begleitet einen Chirurgen durch seinen Alltag im Krankenhaus.

Monheim. Es ist exakt 10.15 Uhr, als das Skalpell über die Haut gleitet. Wie ein Stück weiches Leder teilt sie sich. Chirurg Dr. Michael Kierspe führt ein silbernes Rohr durch den Bauchnabel. Auf diesem Weg werden Licht und Kamera in die Bauchhöhle herabgelassen. Eine Reise durch den Körper beginnt.

Die Kamera leuchtet das Innere des Bauches aus — eine Landschaft aus undefinierten roten Kratern und gelben Hügeln. Nacheinander bohren sich zwei weitere silberne Röhren durch die Bauchdecke, schließlich folgen zangenförmige Scheren, mit der die Krater- und Hügellandschaft beiseite geschnitten wird. Die Chirurgen bahnen sich ihren Weg zum Leistenbruch.

Es ist für Dr. Michael Kierspe die erste Operation an diesem Tag — ein Standardeingriff, wie er sagt. Seit Anfang des Jahres ist der 51-Jährige Erster Oberarzt der Chirurgie am St. Josef Krankenhaus in Monheim. Vorlieben bei der Arbeit habe er nicht. „Es gibt vielleicht eine Sache, die ich nicht so gerne mache“, sagt Dr. Kierspe und lacht, während er sich nach der etwa einstündigen OP wieder in den weißen Kittel wirft.

„Finger- und Zehennägel gehören nicht unbedingt zu meinen persönlichen Vorlieben.“ Mit einem Blick in die Liste der Patienten, die er an diesem Tag behandeln wird, setzt ein herzhaftes Lachen ein. Ein eingewachsener Fußnagel wartet auf ihn in Behandlungszimmer 2 der Ambulanz.

Der Patient hat sich schon die weiße Tennissocke vom linken Fuß gestreift und präsentiert den Zeh. „Dat tut janz schön weh, aber isch bin ein Indianer“, sagt der 78-Jährige mit rheinischem Dialekt. Während der Mediziner sich dem Fuß mit Gummihandschuhen und spitzen Scheren nähert, zückt Josef Kropp seine Digitalkamera.

Er ist Hobbykünstler, ganz vernarrt in seine selbst gemalten Ölbilder. „Wollen Sie mal sehen?“, fragt er und versucht das Display dem „Herrn Doktor“ unter die Nase zu schieben. Schmerzvoll verzieht er das Gesicht. Kierspe legt das Besteck wieder hin. Ein Pflaster wird genügen, um den Zehennagel heilen zu lassen.

Kierspe widmet sich der Schreibarbeit. Sie nimmt 30 Prozent seiner Arbeitszeit ein. Am Computer in seinem Büro dokumentiert er die Behandlungen. Schon wieder klingelt sein schnurloses Telefon, das er blitzschnell aus der Kitteltasche zieht. Der Hausarzt einer Krebspatientin erkundigt sich, wie eine Operation am Oberschenkel verlaufen ist. Kierspe verlässt den Raum, um sich auf das Gespräch konzentrieren zu können.

Es ist die Abwechslung in seinem Beruf, die für ihn von Anfang an die Spannung ausmachte. „Auf jeden Patienten muss anders eingegangen werden“, sagt er. Der eine sei zimperlicher, der andere brauche klare Ansagen. „Kinder sind wieder ein anderer Fall. Das ist eine sehr emotionale Sache“, sagt er. Sobald jedoch das OP-Tuch über dem Patienten liege, blende er die Vorgeschichte des Menschen aus. „Man ist aufs Handwerk konzentriert“, sagt er.

Eine Seniorin wird von jungen Leuten in weiß-roten Pullovern und mit einem flapsigen Spruch auf den Lippen in die Ambulanz geschoben. Die demente Frau ist nicht ansprechbar, starrt regungslos an die Decke. „Wir wollen heute ihren Verband frisch machen. Erinnern Sie sich?“, sagt Kierspe und hält die Hand der Patientin. Die Seniorin reagiert nicht.

Der Arzt löst den Vakuumverband am Fuß. Die Frau hat sich an der Ferse wund gelegen, der Arzt muss das dunkle, abgestorbene Gewebe abschneiden, die Wunde säubern und neu verbinden. Ein süßlicher Geruch macht sich im Raum und dem angrenzenden Flur breit. „Da denke ich in dem Moment gar nicht dran“, sagt Kierspe wenig später Kaugummi kauend im Nebenraum. „Einfach machen“, sagt er knapp.

Auf dem Weg zum OP trifft er auf Chefarzt Dr. Markus Meibert. Fachtermini werden ausgetauscht, Zettel hin- und hergereicht. Genauso abrupt, wie das Gespräch begonnen hat, endet es.

Im zweiten Saal läuft gerade eine Carpaltunnel-Operation. Unter der blauen OP-Decke lugt ein orangefarbener Arm hervor. Der Herzschlag piepst in regelmäßigen Abständen. Der Handchirurg setzt das Skalpell am Handgelenk an und macht einen zentimeterlangen Schnitt.

Wegen der Blutsperre am Oberarm der Patientin tritt kein Blut aus. Rosafarbenes Fleisch kommt zum Vorschein. Konzentriert sucht Kierspes Kollege nach der Stelle, die der jungen Frau auf dem OP-Tisch Schmerzen in der Hand bereitet.

Kierspe steht im Vorraum und beobachtet seinen Kollegen. Für eine kurze Zeit scheint er mit den Gedanken weit weg zu sein. Doch dann schrillt das Telefon in der Kitteltasche erneut. Der nächste Patient wartet.

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