Missbrauch: Diakonie Aprath stellt sich der Vergangenheit

Übergriffe: Fünf Opfer haben sich bis heute gemeldet. Ein Wissenschaftler soll nun helfen, die Fälle aus den Kinderheimen der 1960er bis 1980er-Jahre aufzuarbeiten.

Wülfrath. "Erschüttert." "Erschrocken." "Unverständlich." Die Betroffenheit ist hörbar. Sie ist spürbar und ablesbar - in den Gesichtszügen. Pfarrer Peter Iwand, Leiter der Bergischen Diakonie Aprath (BDA), wählt seine Worte mit Bedacht. "Es ist einfach furchtbar, was dort geschehen ist." Dort - das ist das Bensberger Knabenheim "Gut an den Linden" bei Köln.

Die Einrichtung, die zur Bergischen Diakonie gehörte, wurde Ende der 1970er-Jahre geschlossen. Doch die Geschehnisse aus den 1960er und 70er-Jahren sind in der Gegenwart angekommen: Missbrauch und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Und nun die Hinweise, dass auch in Aprath Schutzbefohlene Opfer geworden sind.

"Wir haben nichts gewusst." BDA-Vorstandsvorsitzender Iwand sagt es glaubhaft wie fassungslos. Die Unwissenheit endete an dem Tag, als ein Mann anrief: "Haben Sie eine Akte über mich?" Hatte die BDA nicht. "Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Einrichtung in Bensberg gar nicht." Solche Anfragen, weiß Evelyn Leon, Bereichsleiterin Kinder- und Jugendhilfeverbund, erhält die BDA regelmäßig.

Ehemalige Bewohner, die ihre Wurzeln, ihre Vergangenheit beleuchten, stellen sie. Und jetzt dieser Mann. Bensberg? Normalerweise, schildert Leon, reicht ein Blick ins Heimbuch, dann kann man nach Unterlagen oder Akten suchen. Doch in diesem Fall war nichts zu finden. "Inzwischen gibt es ein paar wenige Unterlagen über das Haus. Aber Aufschluss über das, was da passiert ist, geben die nicht."

Den haben der BDA-Führung aber vier Personen geben können. Ehemalige Bewohner. Kleine Jungen damals, gebrochene Männer heute: Reiner, Jens, Klaus und Sebastian. Sie haben Kontakt aufgenommen. Die BDA hat sich nicht verschlossen, will aufarbeiten - und vor allem erst einmal zuhören. Von Schlägen ist die Rede, von Vergewaltigungen - von nicht gehörten Hilferufen.

Im "Haus am Waldsee" an der Stadtgrenze Aprath/Wuppertal treffen sie sich. Alle Männer sind in psychiatrischer Behandlung. Die Auseinandersetzung mit den Taten von damals ist nicht nur Vergangenheitsbewältigung. Sie ist Therapie.

Für Iwand war sofort klar, dass es bei dem Dialog allein nicht bleiben kann. Auch wenn er nicht in der Verantwortung für die Taten stehe, "lässt mich dieser Eindruck von Kindern, die denjenigen ausgeliefert waren, die ihnen eigentlich helfen sollten, nicht los". Aber man wolle nicht in Hektik verfallen. Sorgfältig. Gründlich. Ehrlich. Das sind die Attribute, die Iwand wählt, wenn er über die Aufklärung spricht.

Dabei setzt die BDA auf professionelle Unterstützung. "Wir nehmen die Anregung der Heimkinder auf, den Sozialpädagogen Professor Wolf von der Universität Siegen zu beauftragen." Iwand will die wissenschaftliche Aufklärung. Wie viele Menschen in Bensberg betroffen waren? Man weiß es noch nicht. Im Juni gibt es ein erstes Treffen mit Wolf.

Der Wissenschaftler soll sich aber nicht nur mit den Vorfällen rund um Bensberg befassen. "In den 80er Jahren soll es auch in Aprath in zwei Fällen zu Übergriffen und Missbrauch gekommen sein", bestätigt Pressesprecherin Sabine Kall. Eine Bewohnerin, die heute in Bonn lebt, hatte sich an die BDA gewandt.

Eine Kultur des nicht Wegschauens, eine Kultur des Hinsehens und Ansprechens - "das kann schon dazu beitragen, dass sich Missbrauch und Gewalt in unseren Einrichtungen nicht wiederholen", sagt Evelyn Leon. In der BDA gibt es eine Krisenleitlinie, die bei möglicher Kindeswohlgefährdung greift. "Und gibt es nur einen vagen Verdacht: Das Gespräch muss gesucht werden." Dazu ermuntere man. Leon: "Dinge ansprechen und offen machen: Das ist das Prinzip." Außerdem schaffe das Kinder- und Jugendhilfegesetz einen Rahmen, der regelmäßige Kontrollen fordert. Je geschlossener ein System sei, umso gefährlicher sei es.

Runde Tische, Dokumentationen, Kinderschutzverträge mit dem Jugendamt, Fortbildungen: "Wir haben gute Strukturen geschaffen, diese müssen wir halten und weiterentwickeln", sagt Leon. "Den Leuten von damals hilft das nicht mehr." Als sie das sagt, muss sie schlucken.

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