Bildung Zu arm für das Gymnasium

NRW will kein Kind zurücklassen und vergisst dabei viele Hartz IV-Familien. Bittere Realität, mitten in Krefeld.

Bildung: Zu arm für das Gymnasium
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Krefeld. Bei Schmidts gibt’s manchmal jeden Tag Nudeln. Mit Pilzen, mit Spinat, mit Thunfisch oder schlicht mit Ketchup. Fleisch ist Luxus, Obst seltenes Glück. Annes Jungs sind 15, 11 und 5, die alleinerziehende Mutter muss mit 250 Euro pro Monat für Lebensmittel auskommen. Hartz IV - seit vielen Jahren. Ein Kampf gegen das System. Und gegen Klischees. „Meine Kinder sagen Danke und Bitte, waschen sich die Hände nach dem Toilettengang, wissen, was eine Zucchini ist.“ Und sie besuchen Realschule und Gymnasium in Krefeld. Clevere Jungs, aber zu arm für Bildung.

Dietmar Siegert betreut die Familie. Der Geschäftsführer des Kinderschutzbundes ist Berater, Anker, Vermittler. Er kennt viele solcher Familiengeschichten aus der Krefelder City. Und er klagt an: „Frau Schmidt ist ein Paradebeispiel dafür, dass bedürftige, aber intelligente Kinder in unserem Bildungssystem kaum eine Chance haben. Gerade auf den Gymnasien passe deren Lebenswirklichkeit nicht mit den Anforderungen von Lehrern und anderen Eltern zusammen. Das beginnt bei der Auswahl der Füllermarke, geht über den Anspruch von Internetfähigkeit bis zur Klassenfahrt.“

Anne und die Kids leben in der Krefelder Innenstadt. Natürlich heißt die 34-Jährige nicht Anne und die Schmidts sind nicht die Schmidts. Für die Jungs wären Klarnamen gesellschaftlicher Selbstmord. Arm sein im reichen Deutschland grenzt aus, arm sein in einer digitalen Gesellschaft produziert Mobbing-Opfer. Der Große kennt das, es ist die Hölle. Alles hat eine Vorgeschichte, die von Anne geht so: Mit 16 verlässt sie mit mittlerer Reife das Gymnasium, macht eine Friseurausbildung, schließt sie erfolgreich ab, wird schwanger und mit 19 Mutter. Der Vater, Mechaniker bei einem großen Krefelder Unternehmen, entwickelt sich zu einem gewalttätigen Trinker, verliert seinen Job, macht Schulden. Die Ehe zerbricht, die Schulden bleiben. Es sind ja eheliche. Arbeitet Anne, wird ihr das Gehalt sofort gepfändet. Also konzentriert sie sich darauf, ihren Söhnen einen besseren Start zu ermöglichen.

Davor steht das Bildungssystem, sagt Experte Siegert. In einem Land, das kein Kind zurücklassen will, bleiben unzählige auf der Strecke. Meist seien es die aus den Familien mit dem schmalen Geldbeutel. „Die Politik beruft sich dann oft auf das Bildungs- und Teilhabepaket der Landesregierung. Für absolute Standardanschaffungen mag das ausreichen, aber für nichts darüber hinaus.“ 70 Euro gibt es von der ARGE für Hartz IV-Kinder im ersten Schulhalbjahr, 30 im zweiten.

Anne hat für den Großen im laufenden ersten Halbjahr bis jetzt 134 Euro ausgeben müssen. Auch das ist ein Standard. Die Lebenswirklichkeit. „Es muss dieser eine bestimmte Stift sein, ein Stabilo für 5,90 Euro. Er braucht drei verschiedene Sportschuhe, für Halle, zum Laufen, für die Asche. Und ein Spint muss gemietet werden für 12,50 Euro. Mir bleiben nach Abzug zum Leben der Fixkosten 525 Euro monatlich für uns alle vier, davon brauche ich die Hälfte für Essen und Trinken. Wie wollen wir das machen?“ Aber Anne sagt auch: „Ich kann nichts erwarten, weil ich nichts erwarten darf. Ich lebe schon von der Stütze.“

Siegert hingegen fordert Lernmittelfreiheit für Kinder aus bedürftigen Familien. „Schulförderung, musische und sportliche Angebote müssen kostenlos in die Welt dieser Kinder geholt werden und in Kitas und Schulen stattfinden. Es gibt keine Chancengleichheit.“ Da könnten sich die Mitgliedskommunen des NRW-Programms „Kein Kind zurücklassen“ noch so oft treffen und ihre Ideen austauschen. So wie zuletzt in Oberhausen. „Ein lächerliches Bild“, sagt Siegert. „Fahren mit dicken Karossen vor und beraten bei bestem Catering. Bei uns kommt davon nichts an.“

Bei manchem Pädagogen offenbar auch nicht. Anne kann skurrile Geschichten aus dem Schulalltag erzählen. „Als zuletzt ein bestimmter Taschenrechner für 130 Euro angeschafft werden musste, konnte auch der Förderverein nicht helfen. Die Reaktion eines Lehrers: „Lassen Sie sich doch einen schenken.“ Besonders bemerkenswert: „Die Schule setzt einen privaten Internetanschluss voraus, mindestens einen Computer. Kann ich nicht. Mein Sohn sollte ein Referat abliefern, in der Schule gibt es diese Möglichkeit nicht. Also hat er aus Scham natürlich keinen Freund gefragt, sondern die 20 Seiten auf meinem alten Smartphone getippt und die Lehrerin gebeten, die Seiten auszudrucken. Sie hat es verweigert. Man lebe schließlich in den 2000ern.“

Nicht möglich? „Leider gehört sowas auch zum Alltag“, sagt Dietmar Siegert. Und Anne schaut nach vorn. Mit Sorgen. Im Sommer wird der Kleine eingeschult. Spätestens dann braucht er einen Tornister. Und noch Vieles mehr.

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