Bleichpfad Mississippi-Dampfer: Zu Besuch in einem Haus voller Leben

Den Mississippi-Dampfer kennt wohl jeder in Krefeld. Nur: Wer lebt im größten Wohnhaus der Stadt? Wir wollten es wissen und haben geklingelt.

Bleichpfad: Mississippi-Dampfer: Zu Besuch in einem Haus voller Leben
Foto: Christiane Kathrin Dase

Krefeld. Eine Schönheit ist er nicht, dieser Mississippi-Dampfer, jedenfalls von außen betrachtet. Grau und klotzig wächst er am Bleichpfad knapp 70 Meter in den tristen Winterhimmel — aber vom Dach des Mietshauses haben wir den wohl besten Ausblick über die Stadt: Wie ein Miniaturmodell sieht die Friedenskriche von hier oben im durchbrechenden Sonnenlicht aus. In unserem Rücken qualmen die Industrieschlote des Chemieparks in der Ferne, kaum größer als ein paar Zigarettenstummel.

Näher kann man den Wolken in Krefeld nicht kommen. „An klaren Tagen kann man von hier aus den Gasometer in Oberhausen oder die Flugzeuge am Düsseldorfer Flughafen starten sehen“, sagt Andreas Erkes. Der Verwalter des 1974 gebauten Hochhauses, das hier wegen seiner groben Erscheinung jeder spöttisch Mississippi-Dampfer nennt, steht auf dem Dach neben einem Wald von Funk- und Telefonmasten. Er ist der Herr über 23 Stockwerke — und über das höchste Wohngebäude der Stadt.

252 Wohnungen gibt es hier, zählt Erkes auf, davon seien derzeit mehr als 90 Prozent belegt. Was das bedeutet? Das Mietshaus am Bleichpfad ist der am dichtesten besiedelte Fleck der Stadt, auf dem kleinsten Raum leben hier die meisten Menschen: Etwa 600, sagt der Hausverwalter. „Und tagsüber, wenn der Supermarkt und der Kindergarten öffnen, kommen noch mal 200 bis 300 dazu...“ Wer lebt in diesem „Mikrokosmos“ innerhalb der Stadt? Wir wollen es wissen — und klingeln an den Türen.

Nach oben soll es gehen, so weit wie möglich. Schreiber steht auf dem Klingelschild, 21. Stock. 336 Stufen müssten wir bis dahin erklimmen — gut, dass es Aufzüge gibt. Die Tür öffnet eine Frau mit ziemlich roten Haaren — und bittet uns herein in eine Maisonette-Wohnung. Hier wohnt Ulla Schreiber mit Mann Claus auf zwei Etagen voller Bücher, Kunstwerke und Buddhafiguren aus Kambodscha in ihrer 89-Quadratmeter-Welt über den Dächern von Krefeld.

Warum eine Architektin wie sie in einem der wohl größten baulichen Schandflecke der Stadt lebt? „Weil ich das wollte und es der Hammer ist, hier zu wohnen“, sagt Ulla Schreiber. Gründe dafür hat sie zuhauf: „Wenn es bei den meisten schon dunkel ist, haben wir hier oben noch Sonne. Und beim Kochen habe ich die beste Aussicht, die es in Krefeld überhaupt gibt.“ Bäcker, Metzger und Ärzte seien in Laufweite, „man hat hier die Infrastruktur, die man braucht“, sagt Ulla Schreiber.

Nicht nur deshalb fühle sie sich im Mississippi-Dampfer so wohl, diesem Haus, in dem 25 Nationen — aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine und Russland, aus Afghanistan, der Türkei, Iran und eben auch aus Deutschland — Tür an Tür wohnen. „Ein Brennpunkt ist das hier nicht“, das ist Schreiber wichtig. Im Gegenteil: Mit ihren Nachbarn führe sie politische Diskussionen, „das ist doch die Integration, die wir alle wollen“, sagt sie.

23 Stockwerke, mehr als 250 Mieteinheiten, 300 Stellplätze im Parkhaus und rund 600 Bewohner: Von Anonymität keine Spur, findet Ulla Schreiber. „Dieses Haus lebt nur von Vorurteilen“, glaubt sie. „Fahren Sie doch mal durch die Reihenhaussiedlungen. Da sehe ich nur Dackelausführer, sonst ist alles tot. Aber hier ist Leben.“

Vier Stockwerke tiefer sitzt Max Strauß auf seinem Sofa, ein Schaffell und jede Menge Plüsch im Rücken, und schaut Biathlon. „Davon werden Sie mich nicht abhalten“, meckert er. „Eigentlich lassen wir hier nicht jeden rein“, schiebt der 76-Jährige versöhnlich nach. Seine Frau Monika setzt sich mit uns an den Esstisch und nickt. Ja, in so einem großen Haus müsse man vorsichtig sein, wem man die Tür aufmache. „Ich kenne meine Etage, aber das war’s.“

Vor 25 Jahren, knapp nach der Wende, „sind wir aus Zittau ’rüber gemacht. Wir haben hier Arbeit gefunden“, erzählt die 73-Jährige. Seitdem wohnen die Strauß’ im 16. Stockwerk des Mississippi—Dampfers, auf 79 Quadratmetern voller Erinnerungen an die alte Heimat: Auf dem Balkon steht noch eine riesige Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge, auf den Regalen im Wohnzimmer reihen sich dutzende der kleinen Holzfiguren.

Wegen der Menschen seien sie nicht nach Krefeld gekommen, sagt Monika Strauß, „mit dem Grüßen läuft es schlecht, das machen hier viele nicht“. Trotzdem sei die Wohnung im größten Hochhaus der Stadt ihr Zuhause geworden. „Sie ist schön und bezahlbar, es ist ruhig und wir haben eine tolle Aussicht.“ Ob sie noch mal ausziehen würde? „Wenn, dann nur mit den Füßen voran...“

Nach unten geht’s über die Treppe. Stille. Und nichts außer Beton. Im Treppenhaus riecht es nach Chlor. Außer der Putzkolonne begegnet uns hier niemand.

Auf Etage neun klingeln wir bei Familie Khaled. Hassan (40) ist mit seiner Frau Rana Sanjab (41) und den vier Kindern vor etwa einem Jahr aus Syrien geflüchtet, seit drei Monaten lebt die Familie in dem Krefelder Hochhaus. „In Syrien hatten wir ein Haus mit großem Garten und vielen Tieren“, erzählt die 15-jährige Reneem. Jetzt müssen sich ihre beiden jüngeren Geschwister ein kleines Zimmer teilen.

Mit Reneems Eltern sitzen wir auf einem riesigen Ledersofa in einem sonst sehr leeren Wohnzimmer und trinken süßen, schwarzen Tee. Gastfreundschaft wird hier groß geschrieben: „Bleiben Sie doch noch zum Essen“, lädt Hassan Khaled uns ein und betont: „Wir sind sehr dankbar, in Krefeld leben zu dürfen.“

Mit 400 Menschen auf einem viel zu kleinen Boot zusammengedrängt sei ihre Familie von Damaskus übers Mittelmeer nach Sizilien geflüchtet — vier Tage lang. „Wir hatten große Angst, konnten nichts trinken und auch nicht auf die Toilette gehen“, erinnert sich Hassan Khaled und Reneem übersetzt. Der 40-jährige hofft, hier schon bald wieder als Autoverkäufer arbeiten zu können. Und er ist stolz, dass seine Tochter und sein 13-jähriger Sohn schon so gut Deutsch sprechen und das Gymnasium besuchen.

Ihre Eltern fühlten sich auf den 118 Quadratmetern ihrer Wohnung in diesem Haus voller Menschen trotzdem manchmal isoliert: „Weil sie die Sprache noch nicht sprechen“, sagt Reneem. Wenn sie abends aus dem Fenster ihres kleinen Zimmers runter auf die beleuchtete, fremde Stadt schaut, dann träumt sie von dem Haus mit Garten und Schaukel in Syrien, von ihrer Schildkröte und den Vögeln — und von einer besseren Zukunft. In ihrer neuen Heimat: dem Mississippi-Dampfer.

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