Mauerfall-Serie: Nicht den Grenzer angrinsen

Christian Förster erlebte Berlin vor, während und nach der Wende. Die rasante Entwicklung empfand er als verblüffend.

Mauerfall-Serie: Nicht den Grenzer angrinsen
Foto: Jochmann, Dirk (dj)

Krefeld. Christian Förster kann sich noch genau an seine Berliner Zeit erinnern. Jahrgang 1961, war er Mitte der 80er Jahre zwecks Studiums nach Berlin gezogen. 1989 arbeitete er nach Abschluss seines Pharmaziestudiums als Apotheker in der Kurfürstendamm- Apotheke, direkt gegenüber vom alten Cafe Kranzler.

„Für uns Wessis war ein Ausflug in den Osten ein Kulturschock.“ Im Restaurant habe man sich den Platz nicht frei aussuchen können, sondern man wurde — wie in den USA — „platziert“, erinnert sich der 53-Jährige. „In einer Kneipe am Prenzlauer Berg wurden wir gerüffelt, weil wir ohne Erlaubnis von der Bar an einen freien Tisch in Sichtweite gewechselt sind. Auch das Hinzuziehen eines fünften Stuhls an einen Vier-Personen-Tisch wurde moniert.“

Am 9. November 1989 saß Christian Förster gegen 19 Uhr in seiner Wohnung in Schöneberg und verfolgte die „Berliner Abendschau“. Als auf der Pressekonferenz der DDR-Regierungssprecher Günter Schabowski die sofortige Reisefreiheit ankündigte, machte sich Christian Förster mit seiner damaligen Freundin und späteren Ehefrau zum Brandenburger Tor auf. „Dort standen schon die Menschen auf der Mauer, amerikanische Kamerateams waren bereits vor Ort und leuchteten den Platz mit riesigen Scheinwerfern aus. Sie warteten auf die Öffnung des Tores.“ Christian Förster erinnert sich an Volksfeststimmung: „Die Mauerspechte begannen bereits am Abend, den antiimperialistischen Schutzwall zu zerlegen.“

Für jemanden, der zu diesem Zeitpunkt seit vier Jahren in Berlin lebte und der es gewohnt war, bei Fahrten über die DDR- Transitstrecken schikaniert zu werden (Tempo 100, Kaugummi raus bei der Passkontrolle, nicht den Grenzer angrinsen) kam die Atmosphäre an diesem Abend einem Tabubruch gleich.

„Als ich am nächsten Tag in die Apotheke fuhr, war der Ku´damm voller Menschen“, erinnert sich Christian Förster. „Überall waren Trabbis. Die Menschen kamen in die Apotheke und verlangten Produkte, die sie aus der Westwerbung kannten. Viele fragten nach den Original-Aspirin-Tabletten von Bayer. Ich wies darauf hin, dass es die gleichen Tabletten zum halben Preis von Ratiopharm gibt, aber mein Angebot wurde empört zurückgewiesen. Die DDR-Bürger bestanden auf dem Bayer-Original.“

Erst später, so Förster, habe er den Grund dafür verstanden: „Die Menschen glaubten, dass das teuere Original den Parteibonzen vorbehalten war und es sich um sogenannte ’Bückware’ handele, also Ware unter dem Tresen, für Kunden unsichtbar, die Funktionären vorbehalten war. Sie wollten sich nicht mit dem billigeren Produkt von Ratiopharm abspeisen lassen.“

Manche Kunden fragten auch nur nach Plastiktüten, um daheim beweisen zu können, dass sie im Westen gewesen waren. Und beim Italiener an der Joachimstaler Straße wurden innerhalb der ersten Woche nach der Maueröffnung die kompletten Toilettenarmaturen geklaut.

Christian Förster erlebte noch eine andere Seite der Maueröffnung. In den Monaten danach wurde der Arbeitsmarkt für Apotheker komplett von DDR-Bürgern überschwemmt. Waren bis zu diesem Zeitpunkt die Berufsaussichten im Westen der Stadt gut, so änderte sich dies mit der Privatisierung der Ost-Apotheken. „Plötzlich bewarben sich 50 Leute auf eine Stelle in einer kleinen Kreuzberger Kiez-Apotheke“, so Förster. „Das lag daran, dass Personal im Osten massenweise entlassen wurde. In einer Ost-Apotheke machten 20 Leute die Arbeit, die man im Westen zu fünft bewältigte.“

Hinzu kam, dass in den DDR-Apotheken viele berufsfremde Tätigkeiten ausgeführt wurden. Es gab zum Beispiel Staatsbürgerkunde während der Arbeitszeit. Apotheker mussten an der Uni Seminare in Marxismus-Leninismus belegen. „Wir haben uns einen Spaß daraus gemacht, die neuen Kollegen nach ihren Noten in Marxismus-Leninismus zu fragen“, erinnert sich Förster.

Im Juni 1996 verließ Christian Förster Berlin, um die Markt-Apotheke in Willich zu übernehmen. „Es waren tolle zehn Jahre, die ich nie vergessen werde und in denen ich Zeitzeuge großer Geschichte wurde. Am Niederrhein angekommen, hatte ich das Gefühl, dass das hier keinen Menschen interessiert. Die Wiedervereinigung schien egal zu sein — es gab hier einen reinen Bezug auf den Westen.“

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