Zwangsstörungen Wenn Zwänge völliges Chaos ins Leben bringen

Das Bedürfnis nach Kontrolle ist für Manfred Schuster allgegenwärtig. Seine Erkrankung machte Normalität lange Zeit unmöglich.

Zwangsstörungen: Wenn Zwänge völliges Chaos ins Leben bringen
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Krefeld. Heute spielen sein Glaube und die Ehrfurcht vor Gott keine übergeordnete Rolle mehr in seinem Leben, sagt Manfred Schuster (Name von der Redaktion geändert). Wenn sich der 56-Jährige an seine Kindheit erinnert, dann spricht er von „Verhaltensmustern, die ich aus heutiger Sicht als nicht normal bezeichnen würde“. Hier vermutet er auch die Wurzeln seiner Zwangsstörung, unter der er heute, viele Jahre später, noch leidet.

Manfred Schusters Eltern kommen nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene aus Schlesien nach Krefeld. Sie sind sehr gläubig. „Ob Arztbesuche, Klassenarbeiten oder eine längere Reise — alles wurde in Gottes Hand gelegt“, sagt Schuster und erinnert sich an den Weihwasserkessel vor der Tür des Elternhauses, der jeden Bewohner mahnte, sich zu bekreuzigen, bevor er das Haus verließ. „Um etwas Schlimmes abzuwenden, muss man beten, damit Gott uns beschützt“, so habe er es gelernt, sagt Schuster.

Manfred Schuster

Er sei ein ängstlicher Junge gewesen, einer der sich vor Risiken fürchtete und vor Verantwortung drückte. „Ich war immer auf Katastrophen eingestellt. Mein älterer Bruder war behindert — und die Katastrophe quasi Dauerzustand bei uns zuhause.“ In der Schule ist er ein Eigenbrötler und Einzelgänger, wird gemobbt. „Ich hatte keine Freunde, in Klassenverbänden fällt man so auf. Ich war wütend, habe mich machtlos, hilflos und völlig allein gefühlt.“

Manfred Schuster ist zehn Jahre alt, als sein Vater nach einem schweren Unfall für längere Zeit im Krankenhaus bleiben muss. „Da war das Kindsein vorbei. Ich wusste: Ich muss meine Mutter unterstützen, auf sie aufpassen, damit ihr nicht auch noch etwas passiert.“ Diese Verantwortung habe ihn überfordert. „Ich hatte das Gefühl, eine Alarmanlage zu sein, scharfgestellt, immer bereit, loszuheulen.“

Nach dem Abitur entscheidet sich Manfred Schuster gegen seinen geheimen Wunsch, Architektur zu studieren. Die Angst davor, verheerende Fehler zu machen, die seine Häuser später zum Einsturz bringen könnten, ist zu groß. Seine Eltern bestärken seine Entscheidung: „Wenn du Studieren gehst, bist du ja nicht mehr bei uns, wer kümmert sich dann?“, hätten sie ihren Sohn damals gefragt. „Wir brauchen dich doch, damit du dich um uns und deinen Bruder kümmerst — so wichtig bist du uns.“

Der 19-jährige Schuster wird stattdessen Justizbeamter. „Das bietet Sicherheit“, habe er sich damals gedacht. Während der Ausbildung lernt er seine erste Freundin, die er später heiraten wird, kennen. „Mit ihrer Hilfe habe ich es geschafft, mich etwas von meinen Eltern, von ihren konservativen, altmodischen Lebensvorstellungen zu lösen.“ Die Angst, Verantwortung zu übernehmen, bleibt. Im Job mit hohen Beträgen zu wirtschaften und eigenverantwortlich Unterschriften setzen zu müssen, sei schnell zum Problem geworden, erinnert sich der 56-Jährige. „Ich hatte wieder Angst, Fehler zu machen und dass dadurch dann ein enormer Schaden entsteht.“ Manfred Schuster gerät in einen Teufelskreis: Immer und immer wieder holt er die unterschriebenen Akten aus dem Schrank, um sie auf Fehler zu kontrollieren. „Ich wollte mich dadurch beruhigen. Aber durch den Drang, dem Kontrollzwang nachzugehen und nachzugeben, betoniert man dieses System erst richtig“, das weiß er heute.

Auch auf der Arbeit wird er zum Außenseiter, die Kollegen reden hinter seinem Rücken über ihn. „Der tut ja gar nichts“, sagen sie, weil Schuster sein Pensum nicht schafft. Nur er selbst weiß: „An Arbeitsaufwand hatte ich sicher das Dreifache, als Ergebnis aber wohl nur ein Viertel von dem, was andere geschafft haben.“ Er wird in eine andere Abteilung versetzt, dort erstellt er Mahnbescheide. „Förderlich für meine Karriere war das nicht, eher eine Erniedrigung. Aber meine Kontrollzwänge wurden mit weniger Verantwortung erträglicher.“

Auch zuhause wird er von Zwängen geplagt. Weil ihn der Job nicht fordert, Erfolgserlebnisse ausblieben, kümmert er sich als Heimwerker bei Freunden um Elektroinstallationen. Jahre später vermutet er, dabei Fehler gemacht zu haben. Und der Drang, diese zu kontrollieren wird immer stärker. „Am Anfang habe ich mir bei meiner Frau die Rückversicherung geholt, dass schon nichts passiert ist, aber das hat irgendwann nicht mehr gereicht.“

Inforeihe

Psyche

Manfred Schuster sucht nach Hilfe — erfolglos: „Die Ärzte gingen von einer Depression aus, eine Zwangsstörung hat lange niemand erkannt.“ Mit Einführung der elektronischen Datenverarbeitung kann er den Anforderungen seines Jobs nicht mehr standhalten. „Ich habe keinen Platz mehr für meine Kontrollzwänge gefunden.“ Mit 42 Jahren wird Manfred Schuster Frührentner.

Er schreibt sich an der Hochschule Düsseldorf ein, um als Gasthörer Architektur zu studieren. „Auch da war ich wieder der Außenseiter, älter als die Dozenten.“ Was alles schlimmer macht: „Mir ist bewusst geworden, dass ich den Wunsch, Architekt zu werden, nie ausleben kann. Das war ein richtiger Frustrationsschub.“ Einer, der Manfred Schuster schließlich ins Alexianer Krankenhaus führt. Dort erfährt er, dass er kein Einzelfall ist — auch wenn man Zwangserkrankungen unter Fachleuten wegen der hohen Dunkelziffer „Hidden Disease“ nennt.

Mit Medikamenten ist Schuster heute so gut eingestellt, dass sie seinen Kontrollzwang reduzieren und eine Psychotherapie möglich machen. Ja, Zwangsgedanken habe er noch immer, gesteht der 56-Jährige. „Aber ich trotze ihnen, so gut es geht.“ Wie er das schafft? „Vor allem durch meine Wut darüber, wie viel Lebensqualität mir meine Zwänge in der Vergangenheit schon genommen haben.“

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