Wenn Senioren fixiert werden: Schutz oder Freiheitsentzug?

Experte spricht sich gegen Gurte aus. Die verschlimmerten nur die Situation von dementen Menschen.

Wenn Senioren fixiert werden: Schutz oder Freiheitsentzug?
Foto: dpa

Krefeld. Ein Landwirt findet vor drei Jahren eine seit Tagen vermisste 87-jährige Altenheimbewohnerin tot in einer Ackerfurche am Europaring. Sie war dement, hatte den Weg nicht mehr zurückgefunden. Ist so etwas zu verhindern? Notfalls mit einer Fixierung oder verschlossenen Heimtüren? „Nein“, sagt Pflegeexperte Ralph Möhler von der Universität Witten Herdecke jetzt bei einem Besuch der Alexianer Krefeld GmbH. Eine hundertprozentige Sicherheit gebe es nicht. Deshalb könne auf einen Großteil der Fixierungen in Krankenhäusern und Altenheimen in Deutschland getrost verzichtet werden.

Die Fixierung ist das Thema bei der Jahreshauptversammlung der Alzheimer-Gesellschaft Krefeld. Die hat ihren Sitz in den Räumen der Alexianer am Dießemer Bruch. „Fixierung — das Dilemma zwischen Schutz und Freiheitsentzug“ lautet der Vortrag von Möhler, dessen Thesen in der anschließenden Podiumsdiskussion nicht auf Widerstand stoßen. Vor ihm sitzen Vertreter aus verschiedenen Pflegeeinrichtungen. Sie alle kennen das Problem.

„Wenn wir über Fixierung reden, sprechen wir von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, für die eine richterliche Genehmigung erforderlich ist“, betont Werner Batzke, Betreuungsrichter und Direktor des Amtsgerichtes Krefeld.

Diese Maßnahmen reichen von Gurten für Rollstühle über Bettgitter bis hin zu Vorsatztischen, die das Aufstehen von einem Stuhl verhindern. Auch das Einschließen auf Station oder das Wegnehmen von Gehstütze und Kleidung zählen dazu. Von der medikamentösen Ruhigstellung ganz zu schweigen. „Dazu zählt auch das körperliche Festhalten oder Zurückziehen ins Haus, wenn ein dementer Mensch das Haus alleine verlassen will.“

Ohne richterliche Zustimmung gilt eine solche Maßnahme als Nötigung oder sogar Freiheitsberaubung und erfüllt einen Straftatbestand, auch wenn der Bewohner dement ist. Nur wenn eine akute Gefahr für ihn selbst oder andere besteht oder die Person dem selbst sogar zugestimmt hat, wird ein Gericht einer Fixierung zustimmen. Knapp 18 000-mal ist das im Jahr 2012 geschehen, ein Jahr später nur noch rund 14 000-mal.

„Das sind die ersten Erfolge des Werdenfelser Weges“, sagt Batzke. Besonders geschulte Verfahrenspfleger diskutieren im gerichtlichen Auftrag jeden Fixierungsfall individuell und gehen über den Zeitraum mehrerer Wochen alternative Möglichkeiten mit dem Heim, Angehörigen und Betreuern durch.

Auch Prof. Hans-Jürgen von Giesen, ärztlicher Direktor der Alexianer Krefeld, begrüßt den Werdenfelser Weg. Von 2850 Patienten, die in seinem Haus in der allgemeinen Psychiatrie im Jahr behandelt werden, sind rund 50 zwischenzeitlich fixiert.

Seitdem der Europäische Gerichtshof 2005 entschieden hat, dass eine absolute Sicherheit vor Stürzen dementer Menschen nicht zu gewährleisten ist, sinkt die große Angst der Heime vor der Haftung. Wurden in der Vergangenheit Bewohner schon nach einem ersten Sturz zur vermeintlichen Sicherheit festgegurtet, versuchen die Heime nun, durch alternative Maßnahmen wie Niederflurbetten, eine bessere Personaldichte und der Suche nach den Ursachen eine solche Maßnahme so lange wie möglich zu verhindern.

„Mehr Freiheit wagen“, ist denn auch der Appell von Möhler an die Einrichtungen — vor allem der Altenpflege.

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