Essstörung Wenn Essen zum Problem wird

Eine betroffene 38-Jährige schildert ihren Leidensweg mit Bulimie und den Versuchen, in die Lebenswirklichkeit zurückzufinden.

Essstörung: Wenn Essen zum Problem wird
Foto: Rolf Schulten

Krefeld. Ein halbes Brötchen, ganz dünn mit fettreduziertem Frischkäse bestrichen, drei Esslöffel Müsli mit drei Esslöffeln Magerjoghurt, dazu Wasser und etwas Obst: Das ist Yvonne Schmidts (Name geändert) Frühstück. Die Angst, zuzunehmen, begleitet die 38-Jährige den ganzen Tag. Wenn sie abends die Heißhungerattacken überfallen, kann sie nicht mehr aufhören zu essen — bis sie sich am Ende übergibt. Länger als ihr halbes Leben, seit 22 Jahren, leidet Yvonne Schmidt an der Essstörung Bulimie. Ihre Krankheit sieht man der schlanken Frau mit den blonden Haaren nicht an.

Ob Magersucht, Bulimie oder anderes gestörtes Essverhalten: „Für Betroffene sind Beratung und Therapie überlebenswichtig“, sagt Anne Behnen, Mitarbeiterin der Selbsthilfe-Kontaktstelle beim Paritätischen. Zusätzlich könne auch der Austausch mit anderen Betroffenen Unterstützung bieten — eine solche soll es in Krefeld bald erstmals geben. An Essstörungen litten vor allem Frauen, „immer öfter aber auch Männer“, sagt Behnen.

Dabei ist Bulimie nicht gleich Bulimie, erklärt Yvonne Schmidt: „Manche Erbrechen, andere nehmen Abführmittel oder treiben exzessiv Sport. So individuell wir Menschen sind, so individuell sind auch die Essstörungen.“ Doch die Probleme und seelischen Bedürfnisse, die hinter der Erkrankung stehen, seien bei vielen Betroffenen ähnlich.

Bei Yvonne Schmidt waren es „familiäre Probleme, die erste große Liebe mit 15 oder 16 — ich war unsicher und unzufrieden mit meinem Körper, weil ich damals zwei, drei Kilo zugenommen hatte“, erinnert sich die 38-Jährige. „Ich habe mich immer mit meiner zierlichen Freundin verglichen und mich dabei schlecht gefühlt.“ Damals habe sie nach einer Lösung gesucht, Essen zu können, ohne zuzunehmen. „So kam das mit dem Erbrechen.“

Als sie Abitur macht, wiegt Yvonne Schmidt 62 Kilo — bei einer Größe von 1,77 Metern Normalgewicht. Zu dick fühlt sie sich trotzdem. Mit 20 lernt sie ihren Freund kennen und beginnt auf dessen Drängen ihre erste Therapie. In den nächsten Jahren sollen viele weitere folgen.

Zwei Jahre lang geht es Yvonne Schmidt besser, sie nimmt sogar zu. Als die Waage irgendwann 80 Kilo anzeigt, erleidet sie einen Rückfall: Damit ihr Freund nichts davon mitbekommt, entwickelt sie Strategien, um ihre Bulimie zu vertuschen: Die junge Frau erbricht sich nach dem Essen hinter einem Busch im Park oder auf dem WC eines Restaurants. Die Familie weiß von ihrer Erkrankung, ist aber hilflos.

Weil sie auch das Mittagessen auf der Arbeit aus Angst, weiter zuzunehmen, nicht bei sich behalten kann, bemerken ihre Kollegen irgendwann Yvonne Schmidts Essstörung. Mit 25 geht sie zum ersten Mal für einen stationären Aufenthalt in eine Klinik. „Dort ist es viel leichter für mich. Durch das Essen müssen da alle durch, sonst gibt es Restriktionen. Es ist kein Alltag da, der mich belastet, ich bin ganz für mich.“ Zurück aus der Klinik wird Yvonne Schmidt wieder rückfällig, nach sechs Jahren zerbricht ihre Beziehung an der Essstörung. „Zuhause muss ich mir das Essen selbst erlauben, das kriege ich nicht hin. Und da ist niemand, dem es genauso geht wie mir.“

Genau da sieht auch Anne Behnen von der Selbsthilfe-Kontaktstelle das Problem: „Betroffene entwickeln eine Essstörung ja erst, um mit Belastungssituationen im Alltag klarzukommen.“ Wenn man sie dann ohne Nachsorge nach Hause schicke, sei ein Rückfall vielfach programmiert. Eine Selbsthilfegruppe sei ein wichtiger Baustein, wenn auch kein Ersatz für eine Therapie.

Yvonne Schmidt leidet nicht nur an Bulimie, sondern auch an der Einsamkeit, die ihre Erkrankung als unausweichliche Nebenwirkung hat. „Ich lüge mein Umfeld ständig an, kann mich mit niemandem zum Essen treffen — da bin ich sofort außen vor.“ Stattdessen sehe für sie jeder Feierabend gleich aus: „Einkaufen, kochen, essen, kotzen — am Wochenende manchmal den ganzen Tag.“ Auch wenn man ihr die Bulimie nicht ansieht: „Mein Magen ist geschädigt, die Speiseröhre verätzt“, die Zähne so kaputt, dass Yvonne Schmidt sie durch Kronen ersetzen lassen musste. Und: „Durch den sozialen Rückzug wird man depressiv.“ Daneben sei die Bulimie für sie auch ein finanzielles Problem: „Die Fressattacken sind irrsinnig teuer. Ich gebe bestimmt 1000 Euro im Monat für Essen aus.“

Die Hoffnung, dass sie es vielleicht doch irgendwann schafft, die Krankheit zu besiegen, will die 38-Jährige nicht aufgeben: „Das kann ja nicht alles gewesen sein in meinem Leben.“

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