Zwangsstörungen "Viel mehr Zwänge als nur das Messie-Syndrom"

Burkhard Ciupka-Schön, Verhaltenstherapeut aus Krefeld, spricht mit der WZ über sein Spezialgebiet: Zwangsstörungen.

Zwangsstörungen: "Viel mehr Zwänge als nur das Messie-Syndrom"
Foto: Ciupka-Schön

Krefeld. „Die innere Unfreiheit von Menschen, die Vorschriften befolgen, ohne deren Sinn zu hinterfragen, fasziniert mich, solange ich denken kann.“ Burkhard Ciupka-Schön ist Experte auf dem Gebiet von Zwangserkrankungen, 1995 war der Krefelder Verhaltenstherapeut einer der Begründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen. Im Auftrag der Uni Düsseldorf ist er Ambulanzleiter der Lehrpraxis Zwangserkrankungen. Ein Gespräch über das Krankheitsbild, Ursachen, Therapiemöglichkeiten — und über Lücken in der Gesundheitsversorgung.

Herr Ciupka-Schön, Sie sind Experte für Zwangsstörungen, wie charakterisieren Sie dieses Krankheitsbild?

Burkhard Ciupka-Schön: In den Medien haben Zwangsrituale wie zwanghaftes Waschen und Kontrollieren einen hohen Bekanntheitsgrad. Den Hort- und Sammelzwang kennt man als „Messie-Syndrom“. In Wirklichkeit ist das Bild der Zwangserkrankungen vielfältiger. Zwänge drehen sich um viele andere zwanghafte Bereiche: Ordnung, Zählen, Sexualität, Moral, Religion.

Was sind Symptome einer Zwangsstörung?

Ciupka-Schön: Die sichtbaren Zwangsrituale des Waschens bis die Haut blutig ist oder des stundenlangen Kontrollierens der Wohnungstür sind in einen unsichtbaren Teufelskreis aus Zwangsgedanken und Ekel, Scham oder Angst eingebettet. Depression und soziale Unsicherheit gehen mit der Zwangserkrankung häufig Hand in Hand. Zunehmend exzessivere Kontrollen führen zu einer vorübergehenden Beruhigung. Mittelfristig führen Vermeidung und Kontrolle aber zu immer mehr Verunsicherung und bewirken damit das Gegenteil der ursprünglichen Absicht des Sicherheitsgewinns.

Welche Ursachen hat diese Erkrankung?

Ciupka-Schön: Wichtigste Ursache des Zwanges ist der Teufelskreis aus Aufschaukeln von Zwangsgedanken, Anspannung und Zwangshandlungen. Zwangserkrankungen häufen sich in den Familien der Betroffenen. Dies hat manchmal mit gemeinsam erlebten Belastungen, etwa einer Kriegserfahrung zu tun. Genetische Ursachen sind ebenfalls im Spiel.

Wie erkennen Patienten, dass Sie betroffen sind?

Ciupka-Schön: Wenn die Bedeutung zwanghafter Themen den Alltag beherrscht, sind Betroffene in ihren Fähigkeiten zu genießen, zu entscheiden, zu lieben und zu arbeiten erheblich beeinträchtigt. In dem Moment, wenn Menschen erkennen, dass sie keine freie Wahl mehr haben, wenn ein Gedanke: „Habe ich mich an der Türklinke mit Aids infiziert?“ eine unaufschiebbare Handlung wie Händewaschen fordert, obwohl die Infektion sehr unwahrscheinlich ist, können wir von einer Zwangserkrankung sprechen. Zwangsgedanken und -handlungen füllen sehr viel mehr Zeit aus, als gesunde Menschen mit Routinetätigkeit wie Waschen oder Kontrollieren verbringen. Je mehr Raum ich diesen Themen gebe, desto mehr erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, eine Zwangsstörung zu entwickeln.

Ab wann spricht man von einer Zwangsstörung? Wie zieht man hier Grenzen — was ist krankhaft, was nicht?

Ciupka-Schön: Nägelkauen etwa kann eine Begleiterscheinung von Zwängen und ein Ausdruck erhöhter Anspannung sein, unterscheidet sich von Zwangserkrankungen aber durch das Fehlen von Zwangsgedanken und negativer Anspannungen wie Scham, Schuld oder Ekel. Auch Essstörungen treten oft gemeinsam mit einer Zwangserkrankung auf, hier finden wir Formen von Zwangsgedanken, die aber klar ums Essen und das äußere Erscheinungsbild kreisen.

Wie viele Menschen in Deutschland sind von einer Zwangsstörung betroffen?

Ciupka-Schön: Da sich Zwänge überwiegend im Kopf der Betroffenen abspielen, gehört die Zwangsstörung zu einer der am häufigsten versteckten Erkrankungen. Oft sind es die Betroffenen, die aus Peinlichkeit Zwangssymptome verheimlichen. Tatsächlich leiden etwa zwei Millionen Deutsche, etwa 8000 Krefelder unter Zwängen. Dem steht ein unzureichend entwickeltes Netz ambulanter oder stationärer Versorgung gegenüber. 1995 wurde die Dauer zwischen der ersten Beeinträchtigung und ersten Therapeutenkontakten von Betroffenen mit elf Jahren im Schnitt angeben. Heute gehen wir von etwa vier Jahren aus.

Wie bewerten Sie das Hilfsangebot heute — sind Ärzte ausreichend vernetzt?

Ciupka-Schön: Es gibt wenige Kliniken, die kompetent Zwänge behandeln. Leider befindet sich die nächste dieser Kliniken 150 Kilometer von Krefeld entfernt. Zwänge müssen da behandelt werden, wo die Menschen leben. Mein Ziel ist es, die Angebote vor Ort zu verbessern. Das Alexianer Krankenhaus hat begonnen, teilstationäre Behandlungen für Zwangserkrankte anzubieten, die einen größeren Umfang haben, als das, was wir Niedergelassene leisten können. Die Einstellung mit Medikamenten ist ebenfalls gesichert. Spezialstationen für Zwangserkrankte gibt es hier leider nicht.

Welche Therapien gibt es?

Ciupka-Schön: Es gilt in der Therapie, den Teufelskreis der Zwangshandlungen für die Betroffenen transparent und spürbar zu machen und die Betroffenen zu motivieren, diesen zu unterbrechen, indem die Situationen aufgesucht werden, die diese negative Anspannung auslösen. Um eine Reizkonfrontation etwa mit Ekel zu bewirken, reicht es aus, sich mit einer fabrikneuen Klobürste die Haare zu kämmen. Erst wenn die Betroffenen so feststellen, dass alles nicht so schlimm war und sie langfristig durch Reizkonfrontation mehr Entspannung und Befreiung von ihren Zwängen erreichen, machen sie aus eigenem Antrieb mit den Reizkonfrontationen weiter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort