Sozialstunden: „Jeder Jugendliche hat eine zweite Chance verdient“

Bei Annemarie Hendricks arbeiten junge Leute ihre Sozialstunden ab. Sie haben mit Drogen gehandelt oder waren in eine Schlägerei verwickelt.

Krefeld. In Rosis Leben lief bisher einiges schief: von der Polizei mit Drogen erwischt, zwei Wochen Gefängnis — vorbestraft. Der Richter hat sie zu außerdem 250 Sozialstunden verurteilt. Die leistete Rosi auf dem Pferdeschutzhof in Oppum ab. „Hier hat man wenigstens das Gefühl, etwas Gutes mit seiner Zeit anzufangen“, sagt die 26-Jährige.

Bis zu fünf Arbeitskräfte unterstützen Annemarie Hendricks auf ihrem Hof — alle haben eine Straftat begangen. Seit zwölf Jahren kooperiert Hendricks mit der Jugendgerichtshilfe. Die Jugendlichen, die zu ihr geschickt werden, haben Diebstähle begangen, Schule geschwänzt, mit Drogen gehandelt oder waren in eine Schlägerei verwickelt. „Ich möchte schon wissen, welche Tat sie verübt haben. Waren sie beispielsweise gewalttätig, kann sich das auch auf die Zusammenarbeit auswirken“, sagt Hendricks.

Zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam es bisher nicht. Der Alltag ist eher von kleineren Problemen überschattet: „Sie haben manchmal keinen Bock, kommen zu spät oder machen nicht richtig mit“, sagt Hendricks. Langschläfer klingelt sie aus dem Bett, fordert Faulpelze immer wieder auf, die Schaufel in die Hand zu nehmen — „Man muss dran bleiben.“ Bei uneinsichtigen Kandidaten helfe aber nur eines: „Vom Hof werfen.“

Florian (17), Dominik (16), Büsra (17), Wolfgang (40) und Rosi (26), die ihre Sozialstunden bereits abgeleistet haben, waren Musterschüler. „Ich habe mir das krasser vorgestellt“, sagt Dominik. Die Gruppe war nett und die Arbeit „ganz o.k.“. Ohne Widerworte mistete er jeden Tag die Ställe der 38 Pferde aus. Er befolgte auch die Verhaltensregeln, die Hendricks im Pausenraum aufgehängt hat. „Nicht im Bereich der Ställe rauchen“, „Nicht betrunken auf dem Hof erscheinen“ steht beispielsweise auf der Liste.

In der Schule war Dominik nicht so einsichtig. Er schwänzte oft, nahm Drogen, musste einen Monat in eine Entzugsklinik. „Und zwei Wochen in den Jugendknast“, sagt der 16-Jährige. „Komisches Gefühl, 24 Stunden eingesperrt zu sein und nicht über sein Leben bestimmen zu können, nicht?“, unterbricht ihn Rosi. Dominik nickt.

Die Jugendlichen sprechen miteinander über ihre Taten oder die Zeit im Gefängnis. „Wenn du die Wachleute mit ihren Knarren siehst, wird dir schon anders. Die dürfen auch auf dich schießen, wenn du versuchst abzuhauen“, erzählt Rosi. Büsra reißt die Augen auf: „Oh Gott.“

Zu Hause werden diese Themen in der Regel lieber totgeschwiegen. „Meine Eltern wissen sogar gar nichts davon“, gesteht Rosi. „Mit den Leuten hier kann man dafür offen sprechen. Die haben Ähnliches erlebt“, erklärt Büsra (17).

Ihre Taten bereuen alle. „Man hat viel Zeit zum Nachdenken“, sagt Rosi. Ihr Traumberuf war immer Apothekerin oder Heilpraktikerin. „Das kann ich nun mit einer Vorstrafe vergessen.“ Jetzt hat sie ein neues Ziel: eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Auch Büsra hat einen Ausbildungsplatz sicher.

„Jeder hat eine zweite Chance verdient“, sagt Annemarie Hendricks. Deshalb hat sie trotz manch schlechter Erfahrung nie aufgegeben und nimmt die Jugendlichen mit schwieriger Vergangenheit weiter auf. Einige kommen auch nach ihren Sozialstunden auf den Hof und helfen freiwillig mit.

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