Krefeld Majdanek-Prozess: In den Nächten kam das Grauen

Ehemaliger Pflichtverteidiger im Majdanek-Prozess berichtet am 26. Januar in Krefeld über seine Erlebnisse und Gefühle.

Der ehemalige Pflichtverteidiger Dieter Hanschel mit den Urteilen aus dem Majdanek-Prozess.

Der ehemalige Pflichtverteidiger Dieter Hanschel mit den Urteilen aus dem Majdanek-Prozess.

Foto: Jochmann, Dirk (dj)

Krefeld. Offen und ehrlich blickt Dieter Hanschel zurück, nachdem er mehr als 30 Jahre lang über seine Erinnerungen an den Majdanek-Prozess nicht reden wollte, nicht reden konnte. Mit 39 Jahren hatte er damals vor dem Düsseldorfer Landgericht zusammen mit einem Kollegen die Pflichtverteidigung für den früheren SS-Hauptscharfführer Heinrich Groffmann übernommen. Der war mit 16 weiteren ehemaligen Aufsehern wegen Mordes und Beihilfe zum Mord angeklagt.

In der Nähe von Majdanek, ein Teil der polnischen Stadt Chelm, hatten die Nazis 1941 ein Konzentrations- und Vernichtungslager eröffnet. Schätzungsweise 250 000 Menschen wurden dort ermordet, 100 000 von ihnen waren Juden. Detaillierte Schilderungen schlimmster Quälereien und brutaler Vernichtung von Kindern, Frauen und Männern kamen in dem Prozess zur Sprache. Als am 30. Juni 1981 die Urteile gesprochen wurden, fielen die Haftstrafen geringer aus als erwartet. Vielfach war deshalb von „Schandurteil“ die Rede. Wieso Dieter Hanschel nicht den Glauben an die Menschheit und die deutsche Justiz der Nachkriegszeit verloren hat, erzählt er hier.

Wieso jetzt?

Dieter Hanschel: Erstmals kam mir die Idee dazu bei Vorbereitungen auf eine Israel-Reise mit der Lanker Kirchengemeinde. Auf dem Programm stand auch ein Besuch in Yad Vashem. Mir wurde klar, ich kann die Holocaust-Gedenkstätte nicht mit einer christlichen Gruppe besuchen und so tun, als ob ich nichts damit zu tun hätte. Das Ende des Prozesses lag 33 Jahre zurück, eine Anzahl an Jahren, die auch im Majdanek-Prozess immer wieder eine Rolle gespielt hatte.

Weshalb?

Hanschel: Der Vorsitzende Richter ebenso wie wir Anwälte hatten die Zeugen immer wieder gefragt, ob sie sich über die lange Zeit nach ihrer Befreiung an die Geschehnisse im KZ überhaupt erinnern konnten. Sie konnten es. Angesichts der Israel-Reise habe ich mich dann selbst gefragt, kann ich das? Einer meiner ersten Gedanken darauf war: Ich muss mich dem stellen, kann nicht so tun, als wäre es nicht gewesen.

Wie ist diese „Erinnerungslücke“ entstanden?

Hanschel: Der Prozess dauerte mehr als fünfeinhalb Jahre, 474 Verhandlungstage. Es wurden rund 350 Zeugen aus dem In- und Ausland gehört, darunter auch 215 KZ-Opfer, die sich noch einmal mit den schrecklichen Erlebnissen auseinandersetzen mussten. Immer mittwochs und an weiteren Tagen wurde verhandelt. Das war nach einiger Zeit auch ein psychischer und körperlicher Rhythmus. Die Anklageschrift war zwei DIN-A 4 Bücher dick, hinzu kamen noch die Gerichtsakten: 25 000 Blatt Papier. Die habe ich nachts zu Hause gelesen — da begann das Grauen über das dort Niedergeschriebene und tagsüber Gehörte. Als die Urteile gesprochen wurden, der Prozess zu Ende war, war zunächst nur Leere zu spüren. Die habe ich erst mit einem Deckelchen zugemacht, so gut wie es ging. Über das Verfahren konnte ich Familie und Freunden nicht viel erzählen. Innerlich habe ich einen Schlusspunkt unter das Urteil gesetzt. Danach habe ich jedoch noch lange nachts geträumt, dass es neue Verhandlungstermine im Majdanek-Prozess geben würde.

Die Verteidiger der angeklagten ehemaligen SS-Wachleute wurden teils zu Recht als Nazi-Anwälte kritisiert. Sind Sie persönlich von Freunden und Bekannten gefragt worden, wie Sie die Verteidigung eines solchen Kriegsverbrechers übernehmen konnten?

Hanschel: Ja, auch später noch. Im Gegensatz zu den Wahlverteidigern, werden Pflichtverteidiger von Gerichtsvorsitzenden bestimmt. Er wählt die aus, von denen er weiß, dass sie dem Verfahren gewachsen und mit den Prozessabläufen vertraut sind. Mir hatte zunächst der Rechtsanwalt Franz Kalpers erzählt, dass er noch einen Mit-Verteidiger brauche und mich gefragt, ob ich das sein will. Ich wusste, es wird ein großer Prozess, in dem ein Teil einer KZ-Lagermannschaft angeklagt wird. Als mich der Vorsitzende Richter, Günter Bogen, kurze Zeit später fragte, ob ich mir das zutraue, sagte ich ja. Kurz danach erhielt ich die Bestellung als Pflichtverteidiger für Heinrich Groffmann. Es gehört zu unseren heutigen Grundwerten und Rechtssystem, dass jemand, der noch nicht verurteilt ist, eine anständige Verteidigung bekommt, auch wenn ihm solche grausamen Taten vorgeworfen werden.

Ältere Anwälte hatten Ihnen vorgehalten, dass Sie aufgrund ihres Alters (Jahrgang 1936) selber keine Kriegserfahrungen haben und deshalb auch nicht die Angeklagten verteidigen könnten. Haben Sie das auch so empfunden?

Hanschel: Nein. Im Laufe der Zeit hat es sich außerdem herausgestellt, dass es Unterschiede zwischen den kriegserfahrenen Anwälten gab. Nicht alle, aber einige standen dem Nationalsozialismus auch in den 70er-Jahren sehr nahe. Ich erinnere mich an einen sogar jüngeren Anwalt, Ludwig Bock. Er verteidigte die KZ-Aufseherin Hildegard Lächert, die im Lager nur die „blutige Brygida“ hieß. Im Gerichtssaal forderte er, eine der zuvor gehörten Zeuginnen sofort zu verhaften wegen Beihilfe zum Mord. Sie hatte geschildert, dass man sie gezwungen hatte, das Zyklon-B in die Gaskammern zu transportieren. Wir wussten vor Schreck gar nicht, was wir darauf sagen sollten. Eine derartige Verhöhnung der Opfer und ein solch menschlicher Missgriff. Danach konnte keiner nach Hause gehen und sagen, so das war’s für heute. 30 Jahre später, wie Schreckgespenster aus dem Urgrund, tauchten diese Prozess-Erinnerungen in Vorbereitung auf meine Israel-Reise wieder auf.

Sie haben vor einigen Jahren einen Gesprächskreis „Lebenszeichen“ für Männer gegründet. Weshalb?

Hanschel: Als mich vor 20 Jahren ein Journalist fragte, ob ich über meine Erlebnisse im Majdanek-Prozess berichten wollte, sagte ich nein. Über ein Angebot der Kirchengemeinde in Lank bin ich dann doch dazu gekommen, über das Erlebte zu reden, mich zu öffnen und auch die Emotionen zuzulassen. Das war sehr schwer, hat mir aber gut getan. Es hat es mir leichter gemacht, meine persönliche und auch berufliche Vergangenheit zu akzeptieren, mit dem Erlebten umzugehen. Deshalb werde ich auf Einladung der Christlich-Jüdischen Gesellschaft und der jüdischen Gemeinde auch erstmals öffentlich am 26. Januar über meine Erinnerungen an den Majdanek-Prozess und die persönlichen, emotionalen Erfahrungen im Umgang mit den Opfern und Zeugen berichten.

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