Premiere „Der Kirschgarten“: Das letzte Planschen vor der Flut

Die Welt steht unter Wasser, doch die Party geht weiter. „Der Kirschgarten“ im Theater Krefeld.

Krefeld. Als am 15. April 1912 die Titanic in den Fluten versank, soll die Musikkapelle im Bauch des Schiffes bis zum Schluss gespielt haben. Ähnlich fühlt sich der dritte Akt von Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ an: In Matthias Gehrts Inszenierung, die am Samstag Premiere am Stadttheater feierte, steht das ehemals herrschaftliche Gut der Ranevskaja (Eva Spott) längst unter Wasser. Die antiken Möbel sind ruiniert, Schuhe und feine Kleider durchnässt, doch die Party geht weiter. Selbstbetrug ist ein wirkungsvolles Aufputschmittel — bis das Leben für den Kater sorgt.

Anders als bei der Titanic ist das Wasser von Anfang an da. Es plätschert unter den Füßen, es spritzt hoch, es spiegelt Licht an die Wände. Doch Ranevskaja will es weder hören noch sehen. Als sie mit ihren Begleitern aus Paris eintrifft, erblickt sie nur die vertraute Einrichtung und schwelgt mit ihrem Bruder (Daniel Minetti) in Nostalgie: „Jeden Morgen wachte das Glück mit mir auf.“ Einzig Lopachin (Paul Steinbach) pocht auf die Realität: Das Gut und der geliebte Kirschgarten müssen verkauft werden, die finanzielle Lage lässt keine Wahl.

Schon optisch wird dieser zentrale Konflikt erkennbar. Ranevskaja wirkt im Pariser Chic, den weiten Hosen und langen Kleidern, die das Wasser aufsaugen, seltsam fehl am Platz. Innerlich hat sie das kalte Russland längst hinter sich gelassen, es erinnert sie an die Tragödien, die vor ihrer Abreise geschahen, und gerade deshalb hängt sie so an der heilen Welt des Kirschgartens ihrer Kindheit.

Doch dessen Blüte ist vergänglich, einen Wert hat er nur noch als Symbol. Eva Spott kehrt die Zerrissenheit der gestandenen Frau immer wieder für kurze Momente nach außen, sie spielt eine Ertrinkende, die sich selbst nicht sicher scheint, ob sie gerettet werden will.

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