Lesung in der Jüdischen Gemeinde: Ein Mordfall aus zwei Perspektiven

August Zirner und Katalin Zsigmondy lesen aus Werken Tolstois und seiner Frau.

Krefeld. Dass ein Ehepaar Beziehungsfragen auf literarischem Wege klärt, ist eher ungewöhnlich: Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi und seine Frau Sofja Tolstaja haben das in „Kreutzersonate“ und „Eine Frage der Schuld“ getan. Das Schauspielerpaar August Zirner und Katalin Zsigmondy las am Sonntag in der Jüdischen Gemeinde aus beiden Werken.

Tolstaja fühlte sich nach dem Erscheinen der „Kreutzersonate“ bloßgestellt und zutiefst verletzt. Deswegen schrieb sie ihren Roman als Erwiderung. „Ihr Mann hat nie darauf reagiert“, sagt Zsigmondy. Ihr Mann las zunächst die „Kreutzersonate“, die weibliche Sicht folgte nach der Pause.

In beiden Werken geschieht folgendes: Ein Mann in seinen besten Jahren gewinnt eine junge Frau für sich und heiratet sie. Sie bekommen Kinder und führen eine Ehe mit viel Streit — beide fühlen sich unverstanden. Dann tritt ein anderer Mann in ihr Leben, für den die Ehefrau wahre Liebe empfindet. Sie bleibt ihrem Mann treu. Doch der Ehemann rast vor Eifersucht und tötet sie.

In der „Kreutzersonate“ wird das Geschehen aus der Perspektive des Ehemanns erzählt: Zirner liest den Ich-Erzähler eindringlich, es versteht es, mit kleinen Gesten große Gefühle zu vermitteln. Tolstajas Perspektive eines Erzählers, der sich in die Gefühle aller Beteiligten hineinversetzen kann, gewinnt später durch Zsigmondy eine überzeugende Stimme. Beide Schauspieler bieten mit ironischen oder finsteren Stimmlagen eine Interpretation der russischen Werke an.

Für den Zuhörer bleibt die Frage: Lädt die Frau Schuld auf sich, weil sie in einem anderen Mann das findet, was sie in ihrer Ehe nicht bekommt? Oder ist allein der Mann schuldig, der seine Frau tötet, obwohl sie ihm nur in Gedanken untreu war? Und nicht zuletzt: Hätten beide am Ende zu einem gemeinsamen Verstehen finden können? chs

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