"Josefine" im Stadttheater: Außer Thesen nix gewesen

Das experimentelle Stück untersucht das digitale Grundrauschen — und findet darin zu wenige Zwischentöne.

Krefeld. So viele Freunde hatten wir nie. Hundertfach sind wir mit ihnen vernetzt, und was wir schreiben, gefällt ihnen. Nur gesehen haben wir die meisten seit langem nicht. Auf die Frage nach dem Befinden verzichten wir — und falls doch jemand antwortet, heben wir nur kurz per Mausklick den Daumen.

Die Uraufführung „Josefine“ im Stadttheater, die an eine Erzählung von Franz Kafka angelehnt ist, untersucht den Charakter von Beziehungen im digitalen Zeitalter. Der junge Regisseur Christian Grammel bevölkert die Bühne und einen in den Zuschauerraum gebauten Laufsteg mit 60 Sängern (Bühne und Video: Agnes Fabich). Sie wuseln durcheinander, bilden Reihen oder Schwärme, begegnen einander zufällig. Doch Interaktion findet kaum statt, man lebt nebeneinander her.

Der Soundtrack von Sagardia, den 15 Orchestermusiker und ein Schlagzeuger auf dem Balkon liefern, rattert, rauscht und fiept wie das Innere eines Computers. Einzelne Instrumentengruppen, oft die Bläser, setzen gelegentlich harsche Kontrapunkte. Sie klingen wie verzweifelte Weckrufe.

Schnell wird klar, dass Grammel und sein Autor Björn SC Deigner eine Botschaft haben. Immer wieder taucht die Sehnsucht nach Wärme, körperlicher Nähe und echten Gefühlen in den Texten auf, die Hoffnung, sich in der unüberschaubaren Masse sein individuelles Leben zu bewahren. Ein bisschen weniger Kulturpessimismus hätte es da auch getan, schließlich lebt niemand ausschließlich digital. Die Abschaffung des analogen Miteinanders steht trotz Smartphone und Social Network nicht zur Debatte.

Näher am Thema sind Deig-ners Texte, wenn Sie das digitale Grundrauschen unserer Gesellschaft untersuchen. Die „Sehnsucht nach Leerlauf“ kennt jeder, den Wunsch, den Anschluss zu kappen und nichts mehr außerhalb des eigenen Zimmers wahrzunehmen. Das Unbehagen, in der Rechnung aus Nullen und Einsen könne ein fataler Fehler stecken, transportiert „Josefine“ auf bemerkenswerte Weise.

Leider wirkt auch das Stück selbst über weite Strecken wie eine mathematische Konstruktion. Die Fragen des digitalen Seins werden als abstrakte Thesen verhandelt: Vor lauter angestrengtem Nachdenken über die Bedeutung des Individuums versäumt es die Regie, selbst eines zu schaffen. Die Solisten Gabriela Kuhn, Susanne Seefing, Andrea Nolen und Michael Siemon mühen sich, doch sie verschwinden in der Masse — und sollen es wohl auch.

So bleibt das Stück, das nach 70 Minuten höflichen Applaus bekommt, eine lose Blattsammlung, wie ein Suchergebnis bei Google, das man ziellos durchklickt. 100 Treffer, kein Ergebnis.

25. November, 19.30 Uhr, 28. November, 20 Uhr. Telefon: 805 125.

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