Inforeihe Psyche Eine Gefangene ihrer Erinnerung

Wenn die Gedanken zu quälend werden, kommt die große Leere in Lisa Millers (44) Kopf. Sie leidet an einem Trauma aus ihrer Kindheit.

Inforeihe Psyche: Eine Gefangene ihrer Erinnerung
Foto: Andreas Bischof

Krefeld. Es gibt Momente, da ist Lisa Miller (Name von der Redaktion geändert) überzeugt, alles nicht mehr ertragen zu können. „Ja, ich stand schon mal an der Bahnsteigkante. Was mich zurückgehalten hat, weiß ich nicht.“ Schließlich sei sie doch in den einfahrenden neonbeleuchteten Zug gestiegen — „und dann musste ich mit meiner Entscheidung und mit mir alleine sein“.

Inforeihe Psyche: Eine Gefangene ihrer Erinnerung
Foto: dpa

Lisa Miller ist 44, die Wurzeln ihres Leids liegen in ihrer Kindheit, haben sich tief in ihr Seelenleben gegraben. Seit Lisa Miller 29 Jahre alt ist, wird sie wegen einer postraumatischen Belastungsstörung behandelt.

„Dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist, habe schon ganz früh wahrgenommen“, sagt sie heute. War es das Kind, die kleine Lisa, mit der etwas nicht stimmte? Oder war es das gestörte Verhältnis zum inzwischen verstorbenen Vater, der den älteren Bruder in Lisas Alpträumen noch immer mit dem Gürtel schlägt, der Zuhause eine „Atmosphäre des Bedrohtseins, militärische Zustände“ schafft, der „diese zwei Gesichter“ hat? „Wenn er in Wut geriet“, oft über Belanglosigkeiten, erinnert sich Miller, „dann wusste man nicht, wie weit diese Wut geht. Das war eine existenzielle Angst. Ich hatte wirklich Angst um mein Leben.“

Die Frau, die in der gemütlichen Sofaecke im Büro von Beate Al-Sawair sitzt, ist blass und wirkt zerbrechlich. „Ich will einfach nur mal sagen dürfen, dass ich es nicht mehr aushalte, das lässt manchmal schon den Druck raus“, sagt Lisa Miller. Seit nunmehr neun Jahren findet sie in dieser Sofaecke Halt.

Stress abbauen, zuhören, Sicherheit vermitteln. „Eine unserer Aufgaben ist es, in Krisen zu stabilisieren“, erklärt Beate Al-Sawair. Die gelernte Krankenschwester unterstützt mit ihren Kollegen bei der „Assistenz GbR“ im Ambulant Betreuten Wohnen psychisch kranke Menschen wie Miller.

Alltagsbegleitung nennt Beate Al-Sawair ihre Arbeit. „Wir unterstützen Menschen dabei, selbstständig in ihrer eigenen Wohnung zu leben.“ Türmt sich dort der Müll? Ist die Post geöffnet, wurden Rechnungen bezahlt? Ist genug Essen im Kühlschrank? „Die meisten unserer Klienten kommen zu uns, weil sie keinen Ausweg mehr sehen aus dem Schlamassel, in den sie sich wegen ihrer Erkrankung manövriert haben.“ In vielen Fällen sei es fünf vor Zwölf. „Wenn die Räumungsklage da ist, geht es erst einmal vorrangig darum, sich um diese Dinge zu kümmern“, sagt Al-Sawair. Manchmal reiche es anfangs aber auch, „einfach da zu sein und zuzuhören, um Einsamkeit und Isolation zu überwinden. Wir gucken: Was braucht der Einzelne? Ziel ist es immer, den Menschen so schnell wie möglich wieder zurück zur Selbstständigkeit zu bringen. Und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.“

Als Lisa Miller ihr Elternhaus verlässt, ist sie Anfang, vielleicht Mitte 20. Sie will eine Schulzeit voller Demütigungen, den unberechenbaren Vater und ihre ängstlich-kontrollierende Mutter hinter sich lassen. Die junge Frau beginnt zu studieren, sie interessiert sich für Sprachen, schlägt sich finanziell mit Gelegenheitsjobs durch. „Es gab auch da schon immer wieder depressive Phasen mit Schlaflosigkeit, in denen ich kaum etwas essen konnte.“

Dissoziation nennen Psychiater das Auseinanderfallen von zusammenhängenden Funktionen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität und der Motorik. Lisa Miller sagt: „Ich beame mich, schwimme so weg. Dann wieder habe ich das Gefühl, als wäre mein Körper eine leere Hülle und ich würde in meinem Kopf wohnen, 24 Stunden damit beschäftigt, bloß alles im Auge zu behalten.“ Kleinigkeiten fallen unendlich schwer, „wie Schritte in einem zähen Sumpf“. Und dann sind da diese unguten Gefühle, Erinnerungen, die 44-Jährige nennt sie „emotionale Flashbacks, für die man keine Bilder hat“. Vielleicht, weil sie so tief verschwunden sind in der Dunkelheit des Unterbewusstseins, dort versteckt bleiben sollen. „Ich habe keine bewusste Erinnerung daran, dass mein Vater mich auch geschlagen hat“, sagt Lisa Miller.

Ein schrecklicher Unfall, Kriegserlebnisse, Naturkatastrophen, Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen, die Erfahrung verlassen zu werden, Krankheit, Tod. Das alles sind Ereignisse, die ein Trauma auslösen können — aber nicht müssen, erklärt Beate Al-Sawair. „Trifft ein solches Erlebnis eine stabile Grundpersönlichkeit mit einem Netzwerk aus Ressourcen wie Familie, Sport, Arbeit, das sie auffängt, beeinträchtigt sie dies in der Regel weniger nachhaltig als eine ohnehin schon anfälligere Persönlichkeit ohne stabilisierende Hilfen im Leben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch in dieser Lebenslage an solch einem Erlebnis zerbricht, ist größer.“

Lisa Miller ist nicht an ihrem Trauma zerbrochen. Als ihr Partner sie im vergangenen Jahr verlässt, ist der Gedanke an den vorbeifahrenden Zug plötzlich wieder da. Was sie rettet, ist vielleicht ihre Fähigkeit zur Dissoziation, sich einfach wegzubeamen. Vielleicht ist es aber auch das Schreiben. „Seit ich sechs Jahre alt bin, schreibe ich Texte und Gedichte“, sagt Miller, „weil es meine Ausdrucksform ist“. Die Möglichkeit, eigentlich Unbeschreibliches doch in Worte zu fassen.

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