Ulla Hahn: Der Vater Rhein als Lehrmeister

Zum Abschluss der Literaturtage las die berühmte Autorin im Gerhart-Hauptmann-Haus aus ihrer Tetralogie „Wir werden erwartet“.

Ulla Hahn: Der Vater Rhein als Lehrmeister
Foto: Judith Michaelis

Düsseldorf. Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an — und mit dieser Wachstafel-Weisheit aus dem Mesopotamien des 4. oder 5. Jahrhunderts v. C. Ullas Hahns Roman „Das verborgene Wort“. Der erste von vieren, in dem sie ihr Leben beschreibt als Hilla Palm, quasi ihr Alt-68er Ego. Im überfüllten Saal des Gerhart-Hauptmann-Hauses las Ulla Hahn nun zum Abschluss der Düsseldorfer Literaturtage aus dem vierten Teil ihrer stark biografisch gefärbten Tetralogie „Wir werden erwartet“.

„Lommer jonn“, mit dem Großvater-Spruch beginnt jeder Band. Im ersten wirft der Großvater den ersten Stein am Rhein und bringt der Enkelin bei, ihn übers Wasser hüpfen zu lassen. Den zweiten warf Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ auf das „Das verborgene Wort“ — nachdem er doch zuvor Hahns Gedichte so hoch gelobt hatte? Die Autorin verbuchte es später als Retourkutsche auf abgewiesene Avancen.

Die ARD verfilmte zwei der Bände. Doch stärker als beim Fernsehspiel sind die Bilder, die beim Lesen im Kopf entstehen. Man riecht förmlich die Mottenkugeln der 50er Jahre zwischen aus aufgeribbelter Wolle handgestrickten Pullovern in wurmstichigen Schränken eines auch menschlich muffigen Zuhauses in Dondorf, gemeint Monheim. Ulla Hahn: „Wer dort Schönheit sucht, der muss schon genau hinsehen.“ Sich aus solch watteweicher Spießigkeit raus zu lesen und zu schreiben muss Kraft gekostet haben bis zu dem schönen Satz: „Das Unscheinbare zum Scheinen zu bringen, das lehrte mich der Rhein.“

Es war ein langer, über vier dicke Bücher streckenweise auch langatmiger Marsch. Auslöser sei für sie wie für so viele ihrer Generation der tödliche Schuss auf Benno Ohnesorg 1967 in Berlin gewesen: „Dieser Weckruf für meine Generation“. Und Ereignisse wie der Marsch zum Katholikentag 1968 in Essen mit dem Slogan: „Hengsbach wir kommen, wir sind die linken Frommen“. Die zierliche Hahn, noch heute frohlockend: „Da gingen alle in die Knie.“

Wenn man sie lesen und die eingestreuten Bemerkungen hört zwischen den Zeilen, da verschmelzen Hilla und Ulla immer mehr, und beide wahrscheinlich mit so mancher Biographie im Raum. Man meint sogar einen Kloß im Hals zu hören und mitzufühlen beim Kapitel, in dem sie den Verlust der Liebe ihres Lebens schildert, verbunden in der Liebe zu Büchern. Hugo hatte Hilla Halt gegeben im Leben: „Ich glaubte den Tod nicht.“ Es war ein tödlicher Unfall, während sie auf einem Karnevalsball und später zu Hause wartet, es gab ja noch kein Handy.

Köstlich ist die Passage, in der ein indischer Guru mit der verklemmten Generation frühkindliche Libido-Befriedigung ein- und ausübt — mit Waschlappen, Creme und Puder, oben rum komplett bekleidet, unten rum frei — wegen der Konzentration auf den Kern.

Ins Bett ging Ulla/Hilla mit dem Kommunistischen Manifest. Für sie „eine verführerische Sache, ganz große Literatur“, damit „glaubte ich mich gerettet.“ Am liebsten wollte sie ihre Familie gleich mitretten. Doch die katholische Tante meinte nur lapidar: „Wenn am Ende alle dasselbe haben, wie sollen wir da noch barmherzig sein?“ Dazu verweist Hahn heute auf den rheinischen Sozi August Bebel: „Es ginge wohl, aber es geht nicht.“

Ein Kritiker habe dieses Werk mit einer Reise in das ferne China verglichen, erzählt Ulla Hahn: „Gut getroffen. In Wirklichkeit war es noch exotischer.“ Die Hilla-Geschichte ist hier zu Ende. Und nun? Sie könne doch vielleicht wieder Gedichte schreiben, meint eine Dame aus dem Publikum, nach Abschluss der Lesung mit einem Gedicht über den Vater. Findet die Lyrikerin auch: „Ich geh jetzt erst mal wieder vom Satz zum Wort.“ Das ist doch eines! Lommer jonn…

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