Tödliche Bahnunfälle: Das Leiden der Unglücksfahrer

Auch die Bahnfahrer zählen bei schweren Unfällen zu den Opfern. Das Leben wird schlagartig ein anderes.

Düsseldorf. Es ist ein Nachmittag wie jeder andere, als Rheinbahnfahrer Guido Leffler am 25. Januar 2010 mit seiner Bahn der Linie U75 in die Haltestelle „Heesenstraße“ in Heerdt einfährt. Er rollt langsam aus. Da macht plötzlich ein Mann auf dem Bahnsteig einen Schritt auf die Gleise, direkt vor der Bahn. Leffler bremst sofort hart ab, klingelt. Der Kopf des Seniors wendet sich ihm zu. „Wir haben uns gegenseitig ins Gesicht gesehen“, sagt der 48-Jährige und schluckt schwer. „Das Letzte, was er gesehen hat, war meine Nase.“ Der Fußgänger versucht noch, wegzuspringen. Doch es ist zu spät. Die Bahn prallt gegen ihn. Leffler schaut noch nach dem Schwerverletzten, ruft den Notarzt. Dann steigen Fahrgäste aus und leisten Erste Hilfe. Zum Glück. Der Fahrer ist wie gelähmt, unter Schock. Der 71-jährige Mann wird am nächsten Tag im Krankenhaus sterben.

Für die Öffentlichkeit ist der Fall eine traurige Meldung in der Zeitung. Eine Zahl in der Statistik schwerer Unglücke mit Straßenbahnen, die seit Jahren die Gemüter erregt und Verkehrsexperten über mögliche Vorkehrungen debattieren lässt. Was oft übersehen wird: 2011 etwa gab es 138 Unfälle mit Straßenbahnen in Düsseldorf. Davon war der Bahnfahrer aber in nur 25 Fällen Verursacher. Meist ist er hilfloser Passagier. Der nur den Fahrschalter bis zum Anschlag zurückziehen kann und dann zusieht, wie sich sein riesiges, schweres Fahrzeug bis zum Halt stur geradeaus bewegt. Ausweichen unmöglich. „Man hat überhaupt keine Chance“, sagt Guido Leffler. Und kann nur auf den Knall warten.

Den wird er in seinem Leben nicht mehr vergessen. „Es ist das gleiche Geräusch wie das Zuklappen einer Mülltonne“, sagt er. Wie oft er sich später wegen just dieses Geräuschs auf der Straße erschrickt, kann er gar nicht sagen. „Ich habe viel an mir entdeckt, das ich nicht kannte“, berichtet der 48-Jährige. Er wird schreckhaft, schläft unruhig, kann manche Szenen im Fernsehen einfach nicht mehr ertragen. Typisch für eine posttraumatische Belastungsstörung, sagt Rheinbahn-Psychologin Angela Teuchert.

Dass es die Betriebspsychologin gibt — eine Ausnahme bei Verkehrsunternehmen in Deutschland — ist ein Glück für Guido Leffler: Am Tag nach dem Unfall sitzt er in Teucherts Büro. Unmittelbar beginnt er eine Gesprächstherapie. Nach wenigen Wochen fährt er wieder. „Es juckte mich in den Fingern. Seelisch hatte ich aber länger mit dem Unfall zu tun.“ Er blinzelt, ihm kommen die Tränen.

Nur die wenigsten Fahrer müssen ihren Job nach einem solchen Erlebnis an den Nagel hängen. „Durch unsere engmaschige Betreuung schaffen die allermeisten den Weg zurück“, sagt Psychologin Teuchert. Aber für viele ist er sehr beschwerlich.

Auch für Andrea Rüsseler. Wie Guido Leffler wird sie den Tag nie vergessen, der alles verändert hat. Die terrakottafarbene Jacke und die langen Haare der Frau. Die sieht sie, als sie am 15. Februar 2009 die 713 in Gerresheim fährt, vorbei an der Landesklinik. „Ich fahre normale Geschwindigkeit. Und dann ist da die Frau am Rand“, erinnert sich die 50-Jährige. „Ich gucke sie an, sie guckt mich an. Sie läuft weiter — und plötzlich nimmt sie Anlauf und macht einen Hechtsprung direkt vor meine Bahn.“

Andrea Rüsseler wird ganz rot im Gesicht, wenn sie berichtet. Ihre Stimme wird laut und zittert. „Das ging so schnell. Ich habe geschrien: Nein, nein, nein. Bin voll in die Eisen gegangen.“ Aber sie kann nichts tun. Sie weiß sofort, dass die Frau tot sein muss. Auch bei der Leitstelle weiß man das, als Rüsseler die Meldung durchgibt. Sie soll einfach sitzenbleiben, nicht nach der Frau sehen. „Ich habe mich festgeklammert. Sie hatten später Mühe, mich aus der Bahn zu bekommen“, sagt die Fahrerin. Zwei Fahrgäste kümmern sich um sie, dann kommt das Blaulicht. „Es ging so schnell — und fühlt sich trotzdem an wie Tage. Man bremst für Tauben — und dann so etwas . . .“

Zuerst gibt sich Andrea Rüsseler selbst die Schuld. Dann wird sie wütend. Auf die Frau, auf die ganze Welt. Warum ausgerechnet sie? Warum ihre Bahn? Die 31-jährige Frau war kurz zuvor aus der Landesklinik weggelaufen, hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen — mit den Folgen muss neben den Angehörigen nun Andrea Rüsseler leben.

23 Jahre ist sie schon Rheinbahn-Fahrerin. „Ich wollte wieder fahren. Ich fahre sehr, sehr gern.“ Doch sie braucht länger als Guido Leffler. Drei Monate Therapie, bevor sie wieder in eine Fahrerkabine steigt. Erst auf dem Betriebshof, dann auf Teststrecken — mit Angela Teuchert und einem Fahrlehrer. Zuletzt wollen sie es wissen und fahren an der Unfallstelle in Gerresheim vorbei. Andrea Rüsseler schafft es. „Danach habe ich vor Erleichterung geweint.“

Heute haben beide, Guido Leffler und Andrea Rüsseler, wieder Spaß an ihrem Beruf. Was sie sich von den Düsseldorfern wünschen, ist ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Weniger Eile im Straßenverkehr. Für beide ist es eine große Erleichterung, wenn Fußgänger oder Radler Augenkontakt mit ihnen aufnehmen und so zeigen, dass sie die Bahn wahrnehmen. Dass sie stehenbleiben werden. Dass sich in diesem Moment, an dieser Kreuzung nicht wiederholen wird, was beide so mühsam verarbeitet haben.

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