Stadt-teilchen: Erinnerungen an Kraftwerk, die Mata-Hari-Passage und Kneipen früherer Zeiten

Wenn man schon sehr lange in seiner Heimatstadt lebt, dann verknüpfen sich immer mehr Dinge miteinander. Es entstehen Bezüge und Verbindungen, von denen man nie geglaubt hätte, dass sie jemals Bedeutung erlangen könnten.

Stadt-teilchen: Erinnerungen an Kraftwerk, die Mata-Hari-Passage und Kneipen früherer Zeiten
Foto: Katja Ruge

Es bildet sich beispielsweise eine Ortskenntnis heraus, die verblüffend ist. So genügt es mir manchmal, im Hintergrund eines Fotos oder eines Filmes ein Haus zu sehen und zu wissen: Das Foto ist in Düsseldorf entstanden.

Ein schönes Beispiel dafür lieferte kürzlich die ARD-Serie „Frau Temme sucht das Glück“. Die handelte von einer naiven Versicherungsangestellten, die morgens immer in einen Zweckbau strebte, um dort ihr Büro bei der Rheinischen Versicherung zu finden. Ein paar Mal war sie zu sehen, wie sie das Gebäude betrat, und ein-, zweimal kamen dabei auch die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite ins Bild. Für Sekundenbruchteile nur, aber ich war mir sofort sicher, dass diese Szenen am Heerdter Sandberg entstanden sein mussten. Ich weiß das deshalb so genau, weil ich knapp sieben Jahre dort gewohnt habe und dort auch eingeschult wurde. Das hatte zur Folge, dass ich jede Folge dieser nur mittelmäßig gelungenen Serie schaute, in der Hoffnung, noch öfter einen Blick auf mein Kindheitshaus werfen zu können, und sei er auch noch so kurz.

Im Haus Nummer 25 wohnten wir in einer Zeit, da die naheliegende Brüsseler Straße als Hochstraße gerade gebaut wurde. In der Wohnung unter uns wohnte mein Freund Reinhold mit seinen Eltern und seinen Brüdern, und Reinhold war mein bester Freund. Bis wir kurz nach meiner Einschulung wegzogen nach Bilk.

Aber man geht einander nicht verloren in dieser Stadt, denn kürzlich ist mir Reinhold wiederbegegnet. Nicht in der Realität. Ich stieß auf seinen Namen im Buch „Der Klang der Maschine“ des ehemaligen Kraftwerk-Musikers Karl Bartos. Der beschrieb, wie er Reinhold in einer Kneipe am Belsenplatz traf und mit ihm fachsimpelte. Gleich wusste ich: Das ist mein Reinhold. Der Reinhold, den ich nach dem Wegzug nur noch einmal gesehen habe. Auf einmal war er wieder da, und auch die riesige Modelleisenbahn, die er bedienen durfte, tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ich dachte: So klein ist die Welt in Düsseldorf.

Es sollte nicht die einzige Verbindung bleiben, die ich im Buch entdeckte. Obwohl ich Bartos nie kennengelernt habe, verbindet mich doch erstaunlich viel mit ihm. Nicht nur zitiert er im Buch eine Kritik, die ich mal über Kraftwerk geschrieben habe, auch ist er mit einer Kollegin verheiratet, der ich einst bei meiner Arbeit für das Stadtmagazin „Überblick“ oft begegnet bin. Man erfährt zudem viel über Kraftwerk in diesem Buch, vor allem darüber, was im legendären Kling-Klang-Studio an der Mintropstraße wirklich vorging, als die Band aus Düsseldorf dort Musikgeschichte schrieb. Das habe ich vorher so noch nirgends gelesen. Mir fiel dabei ein, dass es mal einen Journalisten gab, der sich einen ganzen Tag oder mehr auf der Mintropstraße aufgehalten hat, nur um die Atmosphäre in der Nähe des Studios aufzusaugen. Das Ergebnis war ernüchternd. Er konnte gar nichts aufsaugen, hat niemanden getroffen, aber er war halt mal da, wo die Band Kraftwerk früher große Ideen hatte.

Doch die Bartos-Autobiografie ist nicht nur ein wunderbarer Lesestoff für Kraftwerk-Fans. Die über 600 Seiten bieten auch einen schönen Rundgang durchs Düsseldorf von einst. Ich weiß seitdem, dass Bartos 1965 in meiner Nähe gestanden haben muss, als im Rex am Bahnhof der Beatles-Film „Hi-Hi-Hilfe“ anlief und eine riesige Menge die Straße vor dem Kino unpassierbar machte. Ich habe viel erfahren über die Beatszene damals, über den jungen Marius Müller-Westernhagen und über die Lokalitäten, die man als junger Mensch bevorzugt frequentierte, vom Creamcheese über den Ratinger Hof bis zur Mata-Hari-Passage. Ich las vom Unterricht, den Bartos am Robert-Schumann-Konservatorium erhielt, von seinem ersten Einsatz in der Oper, von seinen Wohnungen in Unterbilk, in Oberkassel und an der Berger Allee.

Das war für mich ein kleiner Trip in meine Jugend, weil Bartos gerade mal drei Jahre älter ist als ich und wir uns offenbar über weite Strecken für dieselbe Musik, dieselben Kneipen und dieselben Stadtteile interessierten und uns trotzdem nie begegnet sind. So klein ist die Welt in Düsseldorf. Und dann doch wieder so groß, dass man Jahrzehnte aneinander vorbeilaufen kann, ohne sich je kennenzulernen.

Und falls Karl Bartos das hier lesen und irgendwann unseren gemeinsamen Freund Reinhold wiedertreffen sollte, möge er doch einen Gruß von mir ausrichten. War eine schöne Zeit damals am Heerdter Sandberg.

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