In den Synapsen rumort es wie in Knospen

Der Vorhang zum Frühling öffnet sich langsam.

In den Synapsen rumort es wie in Knospen
Foto: Judith Michaelis

Er kommt. Er ist nicht mehr aufzuhalten. Nicht täuschen lassen vom Regen der vergangenen Woche. Nicht täuschen lassen vom Thermometer. Das lügt. So kalt wie es sagt, ist es gar nicht. Überhaupt ist alles Schmuddelwetter doch nur so etwas wie ein grauer Vorhang, der das eigentliche Ereignis verhüllt. Im Prinzip ist es wie im Musiktheater. Die Zuschauer haben ihre Plätze eingenommen, und auch der letzte Rascheldepp hat das, was er zum Rascheln mitgebracht hat, weggeraschelt. Auch das letzte Hüsteln ist verklungen. Jetzt kann es losgehen mit der großen Oper. Jetzt kann die Bühne erstrahlen. Gleich geht es los. Das ganz große Ding.

In den Synapsen rumort es wie in Knospen
Foto: D. Young

Doch vorher will noch ein bisschen gewartet werden. Nach der quasi inoffiziellen Ouvertüre vom vergangenen Wochenende müssen die Sinne gesammelt, formiert und auf Empfang gestellt werden. Die Spannung lässt sich förmlich mit Händen greifen. Die Luft sirrt. Gleich wird es sich entladen, und es wird ein großes, ein opulentes Fest werden. Das kann man spüren als Zuschauer. Schon vorher. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Wie oft kann ein Ereignis nicht mit dem mithalten, was der Mensch sich davon erwartet hat. Aber dieses Ereignis wird größer als jede Erwartung. Ganz sicher.

Noch ist der Vorhang unten. Aber ein zartes Stimmchen erhebt sich immer häufiger, immer heftiger. Es füllt die Luft. Ganz schüchtern erst, dann lauter, dann noch etwas kräftiger. Ja, es ist eine Amsel, die da am frühen Morgen im Hinterhof tiriliert. Tatsächlich eine Amsel. Monatelang sah man sie besinnungslos im Boden nach Würmern picken, aber jetzt singt sie wieder. Jetzt ist ihr wieder Gesang gegeben.

Die Tage sind schon länger. Wer jetzt früh raus muss, kann seine Lebensgeister mit Licht verwöhnen. Und es wird täglich mehr. Fünf Minuten früher kommt die Sonne alle drei Tage, und fünf Minuten später geht sie unter. Es bleibt mehr Leben. Und abends ist wieder die Amsel dran. Eine Amsel? Viele. Davon können die Menschen draußen auf dem Land nur träumen. Dort ist noch mehr Winter. Wir sind schon weiter. Düsseldorf ist wärmer.

Hier und dort färben sich erste Büsche grün, stehen die vom Sturm geschundenen Bäume im Rheinpark Gewehr bei Fuß. Bei den Magnolien im Volksgarten ist schon zu spüren, wie sie im Inneren ihrer Knospen den Ausbruch vorbereiten. Sie wollen raus, raus ans Licht, raus an die Wärme. Die vom Winter leergesaugte Seele auffüllen. Das wollen sie. Die Narzissenarmee steht auch bereit zum Ausrücken. Bald schon wird sie wieder Düsseldorfs Grünflächen zwischen den schmuddelig grauen Straßen bevölkern. Ein paar naseweise Exemplare haben sich schon vorgedrängelt. Leichtsinnig sind sie. Noch kann der Nachtfrost junges Leben mit einem kurzen Rutsch ins Minus töten.

Wenn die Sonne scheint, fällt Licht auf ausgedörrte Beete, auf vertrocknete Balkonpflanzen, auf vergilbtes Gras. Aber nicht mehr lange herrscht dieser Verfall. Der Verfall dünkt sich allmächtig, aber er wird keine Chance haben, wenn bald das kommt, was kommen muss, was kommen wird, was alle sich so sehnlichst wünschen.

Frühling heißt die große Oper, deren Vorhang sich in diesen Tagen hebt. Oder in den nächsten. Spätestens aber in den übernächsten. Es kommt nicht so genau darauf an, wann er kommt. Wichtig ist, dass er kommt. Der Frühling. Er setzt diese Stadt in ein Licht, das nicht nur Amseln singen lässt. Er bewegt die Herzen. Er flüstert den Menschen etwas, das nur er weiß. Geh raus, sagt er. Tu was, sagt er. Beweg dich.

Was dreckig war, wird sauber gemacht, was fahl wirkt, wird neu gestrichen. Ab und an darf man schon im Jäckchen raus. Schluss mit den Wohnzelten, die aussahen, als gehe man auf eine Nordpolexpedition, ohne die man aber unzulänglich bekleidet war. Auch der Körper spürt die Freiheit, weil er nicht mehr so schwer tragen muss.

Jetzt ist die Zeit für gute Vorsätze. Warum verschiebt man nicht den Jahresbeginn auf den Frühling? Wer braucht so doofe, nichtsnutzige Monate wie Januar und Februar. Nun gut, die Karnevalisten würden maulen. Aber auch die könnten lernen, dass sich viel schöner närrisch sein lässt, wenn rundum sich alle aufführen, als seien sie Narren. Narren von der Gnade des Frühlings. Menschen lächeln mehr, Menschen nehmen einander wieder wahr, und in den für die Gefühle zuständigen Synapsen rumort es wie in den Knospen der Magnolien. Bald. Bald. Bald.

Lasst die große Oper beginnen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort