Wie junge Männer zu Mördern wurden

Das neue Werk Stefan Ruzowitzkys unterscheidet klar zwischen Verstehen und Verständnis. Thema sind die Täter des Dritten Reichs.

Wie junge Männer zu Mördern wurden
Foto: David Young

Düsseldorf. Monster. Man wünschte, es wären Monster. Menschen ohne Seele. Das Begreifen wäre so viel einfacher. Die Realität jedoch ist komplex. Und jene Deutsche, die während des Zweiten Weltkriegs als Mitglieder der Einsatzgruppen in Osteuropa systematisch zwei Millionen Juden erschossen, waren eben keine Monster. Es waren normale Männer. Warum sie diesen Völkermord dennoch begingen, bereitet Stefan Ruzowitzkys (52) neuer Film „Das radikal Böse“ (Kinostart am 16. Januar) beeindruckend auf. Und noch etwas zeigt der Film: So verlockend die Monster-Annahme auch sein mag, so katastrophal wäre es, ihr zu verfallen. Denn sie negiert die Verantwortung der Handelnden.

Wie junge Männer zu Mördern wurden
Foto: Christoph Rau

Ruzowitzkys Dokumentarfilm, der am Mittwoch NRW-Premiere im Cinema feierte, macht das Gegenteil: Er stellt heraus, dass es eben doch eine Alternative gab. „Die Existenz der wenigen, die nicht mitgemacht haben, zeigt, dass es kein Schicksal war, sondern eine individuelle, moralische Entscheidung“, sagt der Drehbuch-Autor und Regisseur im Gespräch mit der WZ.

Die meisten haben dennoch mitgemacht — allen Zweifeln zum Trotz. Den einen Grund dafür gibt es nicht. Es sind viele Mechanismen, die ineinander greifen — bis das Morden für die Täter zur Normalität wird. Hier beginnt der psychologische Ansatz Ruzowitzkys. Er zeigt, wie aus unschuldigen, jungen Männern hundertfache Mörder wurden.

Ruzowitzky: „Dieser psychologische Ansatz ist für mich als Geschichtenerzähler und Filmemacher sehr interessant. Wie handeln Menschen in Ausnahmesituationen?“ In diesem Fall spielen verschiedene Faktoren — im Film von renommierten Forschern beschrieben — eine Rolle. Konformitätsdruck gehört dazu, Autoritätsglaube und Propaganda. Ebenso Selbstbetrug und eine durch Entmenschlichung geschaffene Distanz zum Opfer. Mit dem ersten Massaker wird eine Schwelle übertreten, die zum Trauma wird. Diese Extremsituation wird jedoch mit jeder Wiederholung mehr zur Routine. Ein Mechanismus, der auch beim Morden nicht aussetzt.

Wissenschaftlichen Hintergrund bilden im Film skizzierte Experimente der vergangenen Jahrzehnte. Das Milgram-Experiment ist eines von ihnen, ein anderes das Stanford-Experiment. Auch sie zeigen: Der Mensch achtet Autoritäten und kann mit Macht nicht umgehen.

„Das radikal Böse“ zeichnet sich durch eine verstörende Dualität aus. Sie findet sich insbesondere in der Kluft zwischen Sehen und Hören. Das Auge sieht Allerwelts-Gesichter, gespielt von Laien-Darstellern. Durch das Stilmittel der Handkamera ist man mitten unter ihnen. Gleichzeitig tönen Original-Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Gerichtsprotokollen aus dem Off, in denen die Täter ihr Handeln erklären — und ihrer Familie liebevolle Väter und Ehemänner sind.

Das Morden findet statt neben Baggerseen. Die Sonne scheint golden. Und gleichzeitig wird die Organisation der Tötungs-Maschinerie geschildert.

Es ist ein großer Verdienst des Films, dass er den Zuschauer dennoch nicht ratlos. Denn „Das radikal Böse“ ist kein Geschichts-Film im eigentlichen Sinne. Er weist in die Zukunft — vor allem in seiner Warnung, dass jedem Völkermord Rassismus vorausgeht. Und im Appell des Priesters und Genozidforschers Patrick Desbois. Er fordert zum Handeln auf, wenn Unrecht geschieht. „Warten Sie nicht auf die Politik, politische Institutionen sind zu langsam.“ Ein Appell, der uns alle betrifft.

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