"Nacht umstellt" im Ballett am Rhein: Eine schöne Strapaze

Die neue Premiere des Balletts am Rhein reißt mit und erschöpft die Zuschauer gleichermaßen.

Düsseldorf. Es ist ein Abend in Schwarz-Weiß, den die Zuschauer in Düsseldorf in der neuen Uraufführung von Martin Schläpfer erleben. Schon oft folgten sie dem Direktor des Ballett am Rhein in diffuse Welten und ließen sich von ihm in die Grauzonen des menschlichen Daseins führen. In seinem jüngsten Werk jedoch, das am Freitagabend in der Oper Düsseldorf/Duisburg Premiere feierte, gibt es gar kein Licht mehr, Schläpfer hat es verbannt.

Auf einer Breite von zwölf Metern schuf Bühnenbildner Florian Etti zwei sieben Meter hohe schwarze Quadrate - zugehängte Fenster mit Lichtschlitzen, deren einzige Bestimmung es ist, das Fernbleiben von Helligkeit zu markieren. „Nacht umstellt“ hat Schläpfer seine Choreografie genannt und konfrontiert das Publikum darin einmal mehr mit den Anforderungen seiner Ballettkunst, die im Bund mit der Musik von Schubert und Sciarrino an diesem Abend zeitweise zu einer so erschöpfenden wie mitreißenden Strapaze wird. Für Tänzer und Zuschauer gleichermaßen.

Schläpfer beginnt sein Stück mit den „Deutschen Tänzen“ von Franz Schubert. Wo sich soeben noch Frauen und Männer zu dritt, im Duo oder allein bei einem Fest amüsieren, öffnet sich schon im nächsten Moment der Raum für die einsamen Träume und das Schaudern. Scharfkantig setzt Schläpfer das gleißende Klanggebilde des sizilianischen Komponisten Salvatore Sciarrino an den Schubertschen Überschwang, und zum plötzlich ertönenden Pochen des Herzschlags treibt er buchstäblich seine Tänzer auf die Spitze, wo sie kleine Wunder vollbringen.

Sie schwärmen aus in ihre Fantasien, isoliert und ganz bei sich, dann wieder, wie einem rituellen Gesetz gehorchend, als Gruppe, kämpferisch und lustvoll. Die energiereiche Körperlichkeit, der Schwierigkeitsgrad tänzerischer Kombinationen, die typisch sind für Schläpfer-Ballette, erreichen hier einen neuen Höhepunkt.

Der Chefchoreograf der Oper am Rhein lädt den gesamten Saal schier maßlos mit Intensität auf. Das Besondere dabei ist, dass er sich dazu gerade nicht dekorativer Allegorien bedient, sondern ausschließlich Zustände in Reinform abbildet — Wut und Traurigkeit, Angst und Verlangen, Aggressivität. Schläpfer lässt den menschlichen Organismus atmen, nicht den Individualisten. Dadurch jedoch fehlt das Zentrum, an welchem sich der Zuschauer orientieren kann. Er muss sich stets aufs Neue stabilisieren, um Schläpfer folgen zu können. Das kostet Kraft und Konzentration.

Eine Ahnung davon, wie es dem Menschen ergeht, wird offenbar, wenn auf Sciarrino erneut Schubert folgt. Es ist die Unvollendete Sinfonie, deren ersten Satz die großartige Yuko Kato tanzt. Da ist es endlich, das Wesen aus Fleisch und Blut, welches jetzt, da die Nacht alle Ablenkungen fortgespült und der Melancholie die Hand gereicht hat, das Ausgesetztsein in der Welt spürt.

Das Publikum feiert Schläpfers neues Werk mit tosendem Applaus, welcher an diesem Abend allerdings auch Katalysator ist für das angestaute Sich-Einfühlen-Wollen, das während der rund 70-minütigen Vorstellung nicht so recht zur Erfüllung gelangen will. Das musikalische Wechselbad von Romantik zu Klangschleife - oder, wie Schläpfer es einmal selbst formulierte „von Oase zu Wüste“ - fordert den Zuschauer nicht nur, es setzt ihm zu. „Nacht umstellt“ anzuschauen ist wie eine aufwühlende Expedition, die es zu bestehen gilt. Aber Schläpfer hat ja nie behauptet, dass er es einem leicht machen möchte.

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