Interview mit Ballettchef Martin Schläpfer: „Es ist viel Tiefe unter dem Lack“

Ballettchef Martin Schläpfer wagt sich an die verschnörkelte Musik des Barock.

Düsseldorf. Pollux leidet. Er trägt schwer an der Last des Königseins und an einer Liebe, auf deren Erfüllung, das weiß er, nie hoffen darf. Das barocke Musikgeflecht von Jean-Philippe Rameau aus Pflicht, Sehnsucht und tiefer Empfindung spielt vor einer überdimensionalen Lichtskulptur, einem von der Künstlerin Rosalie erschaffenen Himmel des 21. Jahrhunderts, der die Geschichten der Götter hütet. Der Ballettdirektor der Oper, Martin Schläpfer, hat die Inszenierung von Rameaus „Castor und Pollux“ (Handlung siehe Kasten) übernommen. Es ist das erste Mal, dass der gefeierte Choreograf bei einer Oper Regie führt.

Herr Schläpfer, mittlerweile hat das Publikum von Ihnen zehn Ballettpremieren gesehen. Jetzt inszenieren Sie Ihre erste Oper. Sind Sie nervöser als sonst?

Martin Schläpfer: Nervöser nicht, aber es ist eine andere logistische Herausforderung. Ich bewege hier eine Masse mit Solisten, Chor, Tänzern und Musikern. Und doch geht es bei Ballett und Oper um die gleichen Dinge: Man muss jede Phrase sorgfältig kontrollieren. Geholfen hat mir meine Erfahrung in der Personalführung. Ich weiß, wie man Künstler umkreisen muss, damit man sie packt. Die Arbeit macht mir große Freude. Auch wenn ich bei den Vorbereitungen keinen Tag zu viel hatte und von Anfang an quasi gerast bin.

Rameau war musikalisch ein Revolutionär. Er hat mit den Regeln der Komposition gebrochen und bereits komplexere Harmonien als seine Zeitgenossen genutzt.

Schläpfer: Ich habe erst bei der Arbeit entdeckt, dass ich es hier mit einem Grenzgänger zu tun habe. Eine Barockoper ist affektiert, dachte ich. Aber das stimmt nicht. Unter dem Lack ist sehr viel. In der Nuance dieser stilisierten und verschnörkelten Musik liegt die Tiefe. Anscheinend muss man für manche Stücke erst älter werden, für Mozart war ich auch nicht gleich bereit.

Von Rameaus Oper existieren zwei Fassungen. Mit welcher arbeiten Sie?

Schläpfer: Mit der Urfassung von 1737, welche den sehr sinnlichen Prolog, diese schöne Vorwelt, enthält, der ja bei der Version von 1754 fehlt. Auch wird die erste Fassung nicht so häufig gespielt wie die zweite — das bietet Gestaltungsmöglichkeiten.

In der ersten Fassung steht die Zerrissenheit des Pollux im Mittelpunkt. Die Prüfungen, die der Göttersohn bestehen muss, werden fokussiert. Halten Sie ihn für die psychologisch interessanteste Figur?

Schläpfer: Pollux ist spannend, aber auch Phébé, die Pollux liebt und die Rameau sterben lässt. In meiner Inszenierung wird ihr am Ende ein neues Leben geschenkt. Ich versuche eine Utopie zu bauen, in der Kunst darf man das ja.

Der Tanz ist in der Barockoper nur dekoratives Beiwerk. Damit gibt sich ein Avantgardist wie Sie doch sicherlich nicht zufrieden?

Schläpfer: Na ja, im Prolog ist es schon ein bisschen so. Aber in erster Linie setze ich den Tanz ein, um das Handeln und die Gedanken eines Protagonisten zu kommentieren oder dagegen zu halten. Manchmal vermischen sich die Ebenen — Sänger werden auch tanzen. Gleichzeitig war es mir wichtig, die verschiedenen Künste auch ab und zu klar voneinander zu trennen. Ich lasse den fünften Akt mit Tanz abschließen, da seine direkte Körperlichkeit am ehesten den Moment „darstellen“ kann — und gleichzeitig modern zukunftsweisend ist. Das brauche ich für den Bau des Schlussbildes, in dem sogar alle Götter zu Menschen werden.

„Castor und Pollux“ hat eine echte Story. Ist das hier nun Ihr erstes Handlungsballett, nach dem Sie so oft gefragt werden?

Schläpfer (lacht): Auch dieses Mal ist die Komposition „Schläpfer-ähnlich“. Ich bleibe zwischen klar und unklar. Zwar hänge ich nicht der Metaphysik an, jedoch bin ich immer auf der Suche nach Energien. Aber vielleicht finde ich durch die aktuelle Arbeit den Grund zu einem Handlungsballett. Es braucht dazu ein gutes Konzept. Ich taste mich gerade mit einem Komponisten an dieses Thema heran. Aber ich bin ja erst seit zwei Spielzeiten hier und habe noch Zeit.

Es heißt, die Musik setzt da an, wo die Sprache versagt . . .

Schläpfer: . . . was beim Tanz ja permanent der Fall ist.

Wie ist es für Sie, jetzt, da die Sprache dazu kommt?

Schläpfer: Spannend. Ich habe das Textbuch nicht nur intensiv gelesen, sondern verfolge auch in den Proben jedes einzelne Wort, weil man sehr genau erzählen muss, die Oper voller Rezitative (Sprechgesang, Anm. d. Red.) ist. Rameaus Musik umspült einen nicht mit einer großen, direkten Emotionalität oder einem Sog hin zur Transzendenz. Es gibt eine klare Handlung, die es sichtbar zu machen gilt, dazu braucht man klare Ideen.

Wenn Schauspielhaus-Intendant Staffan Holm Sie bitten würde, ein Stück zu inszenieren, welches würden Sie wählen?

Schläpfer: Da müsste ich erst mal für drei Monate abtauchen. Ich bin schon einmal gefragt worden, in Mainz von Matthias Fontheim, habe es aber nicht gewollt. Es ist ja so ätzend, wenn jeder meint, er könne alles. Nächstes Jahr mache ich wieder Ballett, darauf freue ich mich.

Sie legen sich zu Hause nur Musik auf, wenn Sie mit ihr arbeiten. Trotzdem die Frage: Welche Oper ist Ihnen die liebste?

Schläpfer: Ich mag Strauss-Opern, insbesondere „Elektra“, und „Pénélope von Fauré.

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