„Candide“ im Kleinen Haus: Ein cooler Typ entdeckt die Welt

Kevin Rittberger zeigt seinen „Candide“ in einer satirischen Collage im Kleinen Haus.

Düsseldorf. Arglos, naiv ist er und glaubt an das Gute in der Welt. Candide, der Titelheld von Voltaires 1759 erschienener Novelle, reist rund um die Welt und sucht seine geliebte Kunigunde.

Seinen alten Lehrer Pangloss trifft der Weltreisende ebenso wie den Weisen Martin und die Prostituierte Paquette, die dem staunenden Candide die Welt aus ihrer Perspektive erklären. Die Odyssee, die für den jungen Adligen aus Westfalen in Konstantinopel endet, bringt jetzt Kevin Rittberger auf die Bühne des Kleinen Hauses.

Der Titel „Candide — Acting in Concert“ weist darauf, dass der Hamburger Regisseur und Autor dabei den modernen, coolen Typ eines Suchers und Entdeckers im Visier hat, keinen Original-Voltaire, sondern „sechs Neuanfänge nach Voltaire“ als Collage in Szene setzt. In Flanellhose und schickem Hemd entdeckt er (sensibel und differenziert gespielt von Florian Jahr) die negativen Seiten der Welt.

Später passt er sich den Gepflogenheiten der fremden Kontinente an, tanzt im Glockenrock eines Derwisch oder traktiert in hautengem Harlekinkostüm die Saiten einer E-Gitarre. Eine locker gestrickte, satirische Tanz-, Spiel- und Musik-Performance, die in sechs Szenen in knapp 100 Minuten vorüberzieht.

Der Spott, den der Aufklärungsphilosoph Voltaire einst über den Optimismus der Zeitgenossen ausgoss, spiegelt sich in Rittbergers neu geschriebenen Texten. In Monologen ergeht sich Paquette (schnoddrig, forsch und frech: Xenia Noetzelmann) über ihre Freier, die vom Baumarkt gleich ins Bordell eilen, amüsiert sich über Baumarktboom, Kundenparkplätze und Gartenbau. Letzteres mit Blick auf den reinen Thor Candide, der unbeirrt an seinem Leitmotiv festhält „Wir müssen unseren Garten bestellen“.

Martin (Ingo Tomi) erzählt von Immobilien- und Grundstück-Spekulanten, von einem Chinesen, der Grundstücke in der ganzen Welt besitzt, schließlich über steinreiche Inder. Candide indes berichtet von seiner Investition in ein Stück Land am Bosporus, das er vor Jahren günstig erwarb.

Wegen Industrieansiedlung wittert er nun eine Wertsteigerung, sträubt sich aber gegen einen Verkauf. Abwechslungsreich das Dekor: Eine Riesen-Palette schwebt anfangs wie eine Weltkugel über der Bühne. Ausstatterin Janina Brinkmann lässt darauf wild die Farben quellen. So entstehen wulstige Bergmassive aus Ölschichten.

Den Riesenpinsel, der wie eine Skulptur auf dem Boden liegt, können die Mimen nur mit Mühe fortschaffen. Auf einem mintgrünen Teppich drehen sich die Derwische mit den Folklore-Hüten und weißen, weit wehenden Mänteln minutenlang um die eigene Achse. Ein volkstümliches, meditatives Ritual, das durch demütige Verbeugungen und das Ablegen eines schwarzen Mantels eingeleitet wird. In dieser Szene wird, orientalischer Tradition folgend, kein Wort gesprochen.

Darauf wird ein raumhohes, blutbeschmiertes und zerfurchtes Porträtbild heruntergelassen: Es dient als Kulisse für Kunigunde (Betty Freudenberger), die den Zuschauer mit auf die Reise nach Afrika nimmt. Sie ist hier eine frisch examinierte Medizinerin, die von Straßenkämpfen in Timbuktu erzählt, von Frauen, die den Männern den Geschlechtsverkehr verweigern, von Bergbau und Großdemonstrationen, deren Teilnehmer mit Valium ruhiggestellt werden und einschlafen.

Die aufgekratzte junge Frau redet sich in Rage, bemerkt das und landet als Chirurgin in einer Hamburger Schönheitsklinik. Satirisch und sarkastisch wirken ihre Tiraden wie auch die Klanginstallation mit E-Gitarre und Becken, mit dem Candide, seine Begleiter und eine Sonnentänzerin Shahrazad noch einmal auftrumpfen, um dann im Dunkel zu verschwinden.

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