Körperliche Behinderung nicht verstecken

Die Candoco Dance Company im Tanzhaus: Tänzer haben amputierte Gliedmaßen, sitzen im Rollstuhl oder sind unversehrt.

Ein Tänzer, der nur noch über die Hälfte des linken Arms verfügt, springt und bewegt sich in klassischen Posen. Ein anderer jagt im Rollstuhl über die Bühne, macht plötzlich einen Kopfstand und dreht Pirouetten auf nur einem Rad. Mit Balance-Akten, wie man sie aus modernen und klassischen Tanznummern kennt, überraschen auch die Artisten der „Candoco Dance Company“, die jetzt einige Tage zu Gast im Tanzhaus NRW waren. Die zwei Stücke „Face in“ und „Let’s talk about dis“ („dis“: Abkürzung für „disability“, Behinderung) waren selbst für häufige Tanzhaus-Besucher keine Alltagskost.

Denn nur selten werden körperliche Behinderungen von Menschen derart schonungslos, direkt und skrupellos zum Thema gemacht wie von den Solisten dieser Londoner Kompanie. Das Besondere: Von den sieben Tänzern sind einige selber körperlich eingeschränkt, sind abhängig von Rollstuhl oder Gehhilfen.

Zugegeben: Die Bilder von Athleten, die auf Prothesen laufend Rennen gewinnen, verschrecken heute nicht mehr. In einer Inklusions-Gesellschaft, in der die Einbindung von Menschen mit Behinderung täglich praktiziert wird. Man kennt die Bilder von Sportlern der Paralympics, an deren Eröffnungsfeiern 2008 und 2012 auch die britische Candoco-Company (1991 gegründet) ihr Heimatland repräsentierte. Doch extrem ungewöhnlich ist es, sie hautnah auf der Tanzbühne zu erleben: Sie bewegen sich selbstverständlich mit Tänzern ohne Behinderung im Stil von New- und Modern-Dance, zitieren klassische Ballett-Elemente und vollführen sogar akrobatische Kunststücke.

In „Face in“ testen sie sich aus, machen Wettrennen, türmen Körperbilder auf dem Rollstuhl; denn der Mann im Rollstuhl ist ein Athlet, der seinen muskulösen Oberkörper zunächst unter einem Netz-T-Shirt versteckt, es später vor Wut in Stücke zerfetzt. Auf den ersten Blick irritieren die Tableaus mit verstümmelten Körperteilen; doch nach zehn Minuten verlieren sich Beklemmungen, man nimmt die Behinderungen nur noch am Rande wahr.

Auffällig auch die virtuosen Schrittfolgen einer Tänzerin, die mit ausgreifenden, schwingenden Schritt-Kombinationen daherfegt, plötzlich auf den Boden gleitet und sich auf ihrem linken Armstumpf ausruht. Manche verstecken die betroffenen Gliedmaßen nicht unter einer Prothese, sondern muten den Stumpf direkt zu. Welches Aggressions-Potenzial in ihnen steckt, zeigen sie, wenn sich sie ins Gesicht brüllen oder wie Raubtiere fauchen. Voller Selbstironie die kurze Talkshow, die an frühe Pina-Bausch-Abende erinnert. Hier werden sie persönlich und reden — in Portugiesisch, Französisch, Englisch — über ihre Behinderungen und ihr Leben. Ein Tänzer übersetzt in Gebärdensprache. Eine französische Athletin erklärt: „Einige von uns sind weiblich, andere nicht, einige schwul, andere nicht.“ Bei Candoco ist’s halt wie im echten Leben.

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