Kehlmann: „Narren haben in Krisenzeiten Konjunktur“

Der Autor erläuterte in Düsseldorf seinen neuen Roman „Tyll“ und welche Figuren darin frei erfunden sind.

Kehlmann: „Narren haben in Krisenzeiten Konjunktur“
Foto: Arne Dedert

Ob er den „Tyll“ als Thema ergriffen hat? Oder eher der „Tyll Ulenspiegel“ zu ihm gekommen sei? Das kann er heute nicht mehr genau sagen, erklärt Daniel Kehlmann, Jahrgang 1975. Er lächelt freundlich, beinah scheu, als er das Podium im vollbesetzten großen Theatersaal im Central am Hauptbahnhof betritt. Der Autor, der bereits mit 42 zu den Stars deutschsprachiger Literatur zählt, liebt nicht die große Pose. Verbeugt sich artig, als er mit anhaltendem Applaus begrüßt wird, und eilt zum Rednerpult, an dem er aus dem Kapitel „Könige im Winter“ aus seinem neuen Roman „Tyll“ vorliest.

Buchhändler Müller (Müller und Böhm im Heine-Haus) freut sich, ist dankbar, dass Kehlmann bei seiner Deutschland-Tour auch in Düsseldorf liest. „Tyll“ ist im Herbst 2017 erschienen, seit Wochen rangiert er ganz oben auf vielen Bestseller-Listen.

In dem Opus von knapp 500 Seiten, das er in New York vollendet hat (bei Rowohlt jetzt schon in der sechsten Auflage), schickt er die mittelalterliche Gauklerfigur Till Eulenspiegel (Tyll Ulenspiegel) mitten in den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648). Vermengt historische Fakten mit Fiktion, ähnlich wie in „Die Vermessung der Welt“ — seinem ersten Erfolgsroman, der weltweit eine Auflage von sechs Millionen erreicht hat.

In dem großen europäischen Glaubenskrieg geht es zuallerletzt um katholische oder protestantische Konfessionsfragen oder wenn, dann nur als Vorwand für Machtspiele. Er beschreibt Verwüstungen und Abgründe, die er in den Menschen aufreißt. Bei den einfachen Leuten, aber auch bei den hochwohlgeborenen. Einige Figuren sind historisch überliefert, wie der König von Böhmen Friedrich V., seine Frau Elisabeth Stuart und Gustav Adolf, König von Schweden. Andere hat Kehlmann frei erfunden. Doch bei den Details — wie Kleidung, Krankheiten, Seuchen, gesellschaftliche Regeln und Etikette — hat er sich, wie er im Gespräch erklärt, genau an der Überlieferung orientiert. Dabei erschafft Kehlmann komische Parodien historischer Personen, bringt Kuriositäten aus der Mottenkiste der Vergangenheit zum Vorschein. Klar, einfach und direkt geschrieben, ohne jegliche barocke Schnörkel.

So auch bei der Titelfigur. Tyll Ulenspiegel flieht nach der Hinrichtung seines Vaters und gerät in die mörderischen Kriege und Schlachten, die europäische Majestäten entfachen und Bevölkerung und Soldaten in Elend stürzen, in bis zum 17. Jahrhundert ungekanntem Ausmaß. Im ersten Ausschnitt, den Kehlmann so plastisch vorträgt, dass vor dem Auge der Zuhörer blutige Kriegs-Bilder entstehen, zeigt er den Narren an der Seite des geschlagenen Königs und Kurfürsten von der Pfalz. Ebenso den betäubenden Gestank, entstanden durch Tausende von Leichen und Pestkranken.

Mitten drin: Tyll, der seine Majestät dreist duzt und ihm ungeschminkt die härtesten Dinge sagt. Ein Gaukler, ein Narr? Das sei etwas anderes als ein trauriger Clown. Dieser komme, so Kehlmann, erst im 20. Jahrhundert vor. Narren hatten in früheren Epochen meist etwas Dämonisches, seien bösartig. Und seien, wie die Schellenkappe auf ein gehörntes Tier weise, eine Mischung aus Mensch und Tier. Und Gaukler seien die einzigen der Unterschicht, die damals reisen konnten. Ob der Autor sich selbst an einer Narren-Freiheit erfreue? „Weniger“, schmunzelt Kehlmann. Denn damals war ein Narr im Zweifelsfall gänzlich ungeschützt. „Wenn die Majestät sich über ihn ärgerte, konnte er ihn einfach totschlagen.“ Dennoch hätten Narren Konjunktur in Krisenzeiten.

Angesprochen auf seine Einschätzung unserer Zeit (im Vergleich zum 17. Jahrhundert), sagt der heute überwiegend in New York lebende Kehlmann: „Die Stabilität des Status quo wird generell von Menschen überschätzt.“ Doch könne man die Situation in Europa nicht mit der vor 400 Jahren vergleichen. Und die Gefahr eines neuen Antisemitismus? „Von Amerika aus gesehen hat Deutschland eine liberale, stabile Gesellschaft.“ Die AfD, auf die er in New York häufig angesprochen werde, bedeute keine Gefahr. Anders in den USA. Da sei die Hälfte der Politiker so eingestellt wie die AfD, viele Republikaner seien nach rechts abgerutscht, so seine Einschätzung, und heute sogar noch rechts von der AfD.

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