Ballettchef träumt vom Eiskunstlauf

Martin Schläpfer lernte Eiskunstlauf, bevor er zum Ballett kam. Ein Gespräch über Erinnerungen und Geschwindigkeit.

Ballettchef träumt vom Eiskunstlauf
Foto: Melanie Zanin

Beim Eislaufen liegt selbst im Sturz eine gewisse Poesie. Denn nie und nimmer kommen einem bei dem Gedanken an das winterliche Vergnügen Knochenbrüche und Rettungssanitäter in den Sinn, sondern herrlich kitschige Bilder von Kindern, die bei weißer Dezembersonne auf dem Hosenboden landen, weil sie mit zu viel Wagemut der Vorsicht davongesaust sind.

Bei dem Gedanken an die Beschleunigung, die einem den Traum vom Fliegen in die Erinnerung trägt, gerät auch der ernsthafte Martin Schläpfer in eine Stimmung des Überschwangs. Auf der Eisbahn an der Königsallee schnallt sich der Chefchoreograf des Ballett am Rhein hoffnungsfroh die Spikes um die Schuhe und marschiert unbeirrt auf das Eis. Vom Kufenlauf rät man ihm ab, denn das Wetter ist an diesem Nachmittag besonders schlecht.

Martin Schläpfer, Chefchoreograf des Ballett am Rhein, über seinen Streit mit den Eltern, als er das Eislaufen aufgeben musste.

Es regnet kräftig und die Bahn ist rutschig, Pfützen, wohin man schaut. Schläpfer, der sich gern als „bäurisch“ bezeichnet, weil er doch aus der Schweiz kommt, wo kein Mensch sagt, er fühle sich klein, wenn er einen Gipfel erklommen hat, sondern stolz, weil er es dem Berg gezeigt habe, macht das nichts aus. Arabesque, Passé, er spielt mit der eleganten Bewegungssprache und strahlt. „Beim Eiskunstlauf stellt sich ein Gefühl der Freiheit ein. Es gibt nur dieses Feld und dich. Das ist ein großes Glück.“ Und es entspricht seinem zutiefst individualistischen Wesen, sein Ego in dem Einzelsport ganz und gar auszubreiten. „Beim Eiskunstlauf ist alles auf dich konzentriert. Im Ballett hingegen begibst du dich in ein Kollektiv. Es sei denn, du wirst Solist und koppelst dich ab.“

Schläpfer ist als Junge ständig auf dem Eis. Er liebt das Schlittschuhlaufen, Kunst muss daraus noch werden, was ihm zunächst gleich ist, bis Trainer ihm sagen, dass sie es ungewöhnlich finden, wie er da die Drehungen und Pirouetten der Stars imitiert, ohne auch nur eine Stunde Unterricht genommen zu haben. Von da an geht der damals Zwölfjährige seine sportliche Leidenschaft pragmatisch an und trainiert.

„Es war die Zeit von John Curry. Sein Können war von einzigartiger Noblesse, solche Linien habe ich nie wieder gesehen. Schauen Sie sich die Filmaufnahmen an! Damals mussten die Sprünge mit den vierfachen Drehungen nicht sein. Da passte die Leistung noch zum Körper“, sagt Schläpfer, der seinerseits nie genug bekommen konnte vom Aufsteigen. Vom Schwung, der einen das Fliegen lehren könnte, wenn die menschliche Physis eine andere wäre.

Er fuhr Rollschuh und Schlittschuh, er übte auf Flachdächern, knallte auf Zementböden und verletzte sich doch nie. „Ich hatte keine Angst vor Verletzungen. Vielleicht lag es daran, dass ich ein draufgängerisches Kind war.“

Schläpfer ist viel in der Luft. Auch, als er zum Ballett kommt. Den Eiskunstlauf muss er aufgeben, weil die Privatstunden, die es für eine Profikarriere braucht, zu teuer geworden wären für die Eltern. Zu Hause herrscht dicke Luft. „Es gab jeden Tag Stress, denn ich wollte nur eins: Eislaufen. Ich wurde in der Schule schlecht, fälschte Unterschriften. Ich war einfach ein sturer Bock.“ Also Ballett, wenigstens das. Dabei ist es keine Notlösung, mit der er sich arrangiert, sondern auch hier wird ein Profi auf das junge Talent aufmerksam, Marianne Fuchs aus St. Gallen holt den damals 15-Jährigen in ihre Ballettschule und Schläpfer erlebt einen Verlust: Eiskunstläufer bekommen geschenkt, was sich Tänzer erarbeiten müssen. „Beim Eiskunstlauf bereitet dir der Speed einen Regenbogen. Die Geschwindigkeit gibt dir die Höhe und trägt dich weiter. Im Tanz musst du dir das aus eigener Kraft holen. Wenn das eines Tages nicht mehr klappt, fällt man aus dem Paradies.“

Schläpfer gewinnt nach eineinhalb Jahren Ballettunterricht den Prix de Lausanne, einen der weltweit wichtigsten Wettbewerbe junger Balletttänzer, und erhält ein Stipendium für das Royal Ballett in London. Er wird Solist, Lehrer, Choreograf, Ballettdirektor. Seine Compagnie, das Ballett am Rhein, gilt als eine der besten Europas. Trotzdem träumt Schläpfer bis heute vom Eiskunstlaufen. „Vielleicht, weil ich von dort meinen Sinn fürs Tanzen habe.“

Mit Mitte 20 geht er noch einmal aufs Eis. In Sils Maria, gleich gegenüber dem Haus, in dem Friedrich Nietzsche viele Sommer verbrachte, gab es ein Eisbahnfeld. „Aber da war gar nichts mehr, ich konnte nichts mehr. Das war der totale Frust. Eins wollte ich jedoch nicht — vor Nietzsche stürzen.“

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