„Mama, sind wir arm?“

Eine 41-Jährige erklärt ihren beiden Söhnen, warum sie ihre Bedürfnisse dem Taschenrechner unterordnen müssen.

Düsseldorf. Die Frage kommt unvermittelt und traf Anja M. (alle Namen von der Redaktion geändert) mitten ins Herz. "Mama, sind wir arm?" Mario hatte schon im Bett gelegen, als ihm in den Sinn kam, seine Mutter könne ihm vielleicht erklären, warum die neue Wohnung nicht so geräumig, die Möbel nicht so schön sind. Und warum es eigentlich ein Problem ist, wenn er und sein kleiner Bruder eine neue DVD haben wollen.

Als würde sie ein Dolch durchbohren, genauso habe sich das angefühlt, sagt Anja M. Doch sie bemüht sich um Fassung und erklärt dem Sohn das Leben genauso pragmatisch, wie sie es organisiert.

Gibt es bei uns manchmal Süßigkeiten? Läufst du barfuß, fragte sie ihren Jungen, der sofort versteht, dass auch sein Kinderleben fortan nicht mehr verlaufen kann, ohne dass Prioritäten gesetzt werden. Was der damals achtjährige Mario aber noch nicht weiß, ist, dass diese ganz neue Erfahrung einen gewichtigen Namen trägt: Hartz IV.

Mit diesem leidigen Thema befasst sich Anja M., seitdem sie sich vor einem Jahr von ihrem Partner, dem Vater ihrer Kinder, trennte. Knapp 1500 Euro stehen ihr zur Verfügung: 595 Euro Hartz IV, 620 Euro Unterhalt, 328 Euro Kindergeld. Zieht man die Miete von 644 Euro ab, bleiben rund 900 Euro für Essen, Schuhe und Hosen für die Kinder, Strom, Heizung, Versicherungen, Bahnfahrkarten.

Aber die 41-Jährige kommt klar, denn sie ordnet ihre Bedürfnisse strikt dem Taschenrechner unter. Sie besitzt kein Auto, geht nicht aus, kauft sich keine neue Kleidung, verzichtet auf kostspielige Frisörbesuche. "Mein einziges Laster ist das Rauchen." Im vergangenen Jahr war sie mit den Kindern im Urlaub und verbrachte eine Woche an der See. Die 144 Euro, ein Angebot eines Wohlfahrtsverbands, hat sie sich ausnahmsweise gegönnt.

Als junge Frau hat Anja M. als Apothekenhelferin gearbeitet, später in der Buchhaltung einer großen Werbeagentur und zuletzt als Datentypistin. 1999 schloss das Unternehmen, Anja M. wurde arbeitslos, dann kamen die Kinder. Knapp zehn Jahre lang funktionierte die Familie, im Februar 2008 zog Anja M. aus. Für sie war es ein seelischer Befreiungsschlag. "Aber die Kinder", sagt sie, "die leiden." Der Jüngere, der sechsjährige Tim, sei "ständig wütend", sein Bruder ziehe sich zurück und grübele.

Jetzt soll ein Kinderpsychologe die Gefühlswelt der Jungen neu ordnen, und auch ihrer Mutter hat man Hilfe angeboten. Doch Anja M. lehnt sie ab. "Ich bin aufgewachsen mit dem Satz: ,Alles, was hier gesprochen wird, bleibt in diesem Haus.’" Daher falle es ihr schwer, ihr Innerstes vor anderen auszubreiten. "Jedem gegenüber soll man sich öffnen, der Awo, der Schule, der Kita, der Arge. Das kenne ich nicht, und das brauche ich nicht."

Und so kommt sie nicht heraus aus ihrem Seifenblasen-Dasein, wie sie ihr derzeitiges Leben nennt, und das ohne Freundschaften, Hobbys und Nachrichten auskommt. "Mir fallen mittlerweile schon manche Wörter nicht mehr ein, weil ich meinen Sprachgebrauch auf meine Kinder abstimme." Neuerdings spielt sie öfter das Zahlenrätsel Sudoku, um ihren Kopf anzustrengen.

Die Rückkehr in die Arbeitswelt fällt ihr schwer. "Mir fehlt das Selbstvertrauen. Ständig frage ich mich, schaffe ich es." Nur ab und zu fühlt sie so etwas wie Unbeschwertheit, wenn sie zwischen Kuscheltierschlacht und Schmuseminuten vergisst, dass ihr die Zeit buchstäblich davon läuft. "Ich weiß erst seit meinem letzten Termin bei der Arge, was ein USB-Stick ist. Erzählen Sie das mal einem Arbeitgeber."

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