Nachbrenner für eine Wundertüte

Der OVH trotzt allen widrigen Umständen und erstaunt mit seiner Wandlungsfähigkeit selbst seinen Dirigenten.

Burscheid. Manchmal mag gerade ein Zuviel an Sorgen genau die richtige Dosis sein, um sie in einem Akt resignativen Aufbegehrens allesamt über Bord werfen und danach wie beflügelt aufspielen zu können. Atmosphärische Spannungen, eine missratene Generalprobe und ein derart miserables Wetter, dass an einen Konzertabend unter freiem Himmel beim besten Willen nicht mehr zu denken war. Und dann verzieht sich das Grollen und Blitzen doch, Frieden macht sich breit und der Orchesterverein Hilgen (OVH) tritt auf, als sei er nur für diesen Moment gegründet worden.

Wie viele musikalische Gesichter hat der OVH eigentlich? Am späten Freitagabend, nach jenem so gar nicht vielversprechenden Probelauf für das Serenadenkonzert, taucht eine kleine Abordnung der Musiker noch bei der Verabschiedung von Schulrektor Friedhelm Julius Beucher auf und versorgt die verbliebenen Gäste mit einer Dosis handelsüblicher Rambazamba-Blasmusik.

Einen Tag später donnern die Bläser mal eine Wagner-Ouvertüre durch die Kirchenkurve und lassen nur wenig später mit einem verschmitzten Gershwin-Stück einen Hund am alten Gemäuer Gassi gehen. Im Bernstein-Divertimento werfen sie sich mit atemberaubender Exaktheit minimalste Einsätze zu wie Hochgeschwindigkeitsbälle, um im nächsten Augenblick daherzukommen wie eine rotzige Blueskapelle in irgendeiner Kaschemme von New Orleans.

Bei dieser Wandlungsfähigkeit gerät selbst Dirigent Walter Ratzek ins Staunen: Gegen Ende verkündet er über das Mikrofon unverkennbar irritiert seine Einsicht, beim OVH handele es sich eindeutig um "ein Konzertorchester und kein Probenorchester. Hier blüht es auf, als würde ein Nachbrenner gezündet."

Ratzek leitet seit acht Jahren das Musikkorps der Bundeswehr, ein Profi unter Profis mit entsprechenden Erwartungen an die Probendisziplin. Manches Mal ist er seit Januar an den Gegebenheiten eines Laienorchesters verzweifelt - und dieses an ihm. Aber die fordernde Zusammenarbeit hat Früchte getragen.

Früchte, die so gut zu hören sind wie noch nie. Erstmals in der nun schon sechsjährigen Geschichte der OVH-Serenadenkonzerte und wohl auch einmalig wird der Klangkörper über Mikrofone und Lautsprecher übertragen. Das gibt dem Bläserwumm noch mehr Nachdruck, sorgt aber vor allem auch dafür, dass die zarten Momente nicht untergehen. Auch das ist Ratzek zu verdanken, der die Anlage organisiert und gleich seinen Sohn ans Mischpult gesetzt hat.

Aber Dirigieren allein genügt dem Energiebündel nicht. Bei Gershwins Rhapsody in Blue greift er selbst kraftvoll in die Tasten des E-Flügels, virtuos, ohne selbstverliebt zu sein, und reißt in Sekundenschnelle wieder die Arme empor zum Dirigat - wie am Sonntag noch einmal beim Priesterjubiläum und Abschied von Markus Höyng.

Und dann, vor den Zugaben, die letzte Dosis, um die Herzen endgültig zu öffnen in der großen Publikumsschar: ein Potpourri von Chaplin-Melodien. Dieser kleine, watschelnde Lebenskünstler, dessen äußeres Erscheinungsbild die große Liebe seines Darstellers zur Musik so gar nicht erahnen lässt.

So abgerissen wie der traurige Tramp der Schwarz-Weiß-Streifen ist das Burscheider Publikum natürlich nicht, aber viele darunter, die anders nie in ein OVH-Konzert geraten würden. Nicht nur ihnen eröffnet das Orchester in der Kirchenkurve Jahr für Jahr wieder eine Wundertüte.

Abgang in die Lichter der Kleinstadt, in denen der Zauber des Abends noch eine Weile weiterglänzt.

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