„Für jeden ist es wichtig, eine Ethik zu haben“

Der Arzt Bernhard Rappert über seine Arbeit für den Freundeskreis Indianerhilfe, den Bruch mit der katholischen Kirche und die Bedeutung von Albert Schweitzer.

Herr Rappert, Jungs wollen doch eigentlich immer Lokführer oder Pilot werden. Sie haben als Kind davon geträumt, Missionar zu werden. Warum?

Bernhard Rappert: Ich bin in Würzburg geboren und da ist man immer katholisch. Das war ich auch. Und in der Grundschule hat uns ein Missionar aus Afrika vom Orden der Weißen Väter besucht und einen Vortrag gehalten. Das war danach mein Traum: erstens Priester zu werden und das zweitens zu verbinden mit einer missionarischen Tätigkeit in Afrika. Später habe ich auch gegen den Willen meiner Eltern für sechs Jahre ein Internat dieser Weißen Väter in der Oberpfalz besucht. Dort sollten wir auf die Missionarstätigkeit vorbereitet werden. Doch daraus wurde dann nichts.

Was hat Sie damals an dem Gedanken fasziniert: Abenteuerlust oder der Wunsch, Glauben und Hilfe weiterzugeben?

Rappert: Das Abenteuerliche spielte sicherlich eine Rolle, aber schon auch die Idee, den Menschen zu helfen und den Glauben weiterzugeben. Ich war tief gläubig und das hat mich geprägt, sicherlich auch meinen späteren Beruf und die Arbeit in Peru.

Welche Enttäuschungen haben Sie auf dem Weg vom Missionarstraum bis zu Ihrer Entscheidung erlebt, aus der katholischen Kirche auszutreten?

Rappert: Ich war ja 1982/83 selbst als Arzt zwei Jahre für den Freundeskreis im Urwald und hatte, drei Tagesreisen von der nächsten Klinik entfernt, ein kleines Hospital, das ich allein versorgen durfte. Wir haben dort mit katholischen Priestern aus Kanada zusammengearbeitet, die die Armut mit allen Mitteln bekämpft haben. Dabei hatte ich fast schon den Weg zurück zur Kirche gefunden. Diese Priester pflegten auch einen ganz anderen Umgang mit ihren abtrünnigen Brüdern, die mittlerweile peruanische Frauen hatten. Heute gibt es dort einen neuen Bischof und die Kirche hat in Pucallpa eine große Kathedrale gebaut. Dafür sind alle sozialen Projekte dahin. Dass ist mein Kritikpunkt: dass die katholische Kirche oft Symbole aufbaut und die konkrete Arbeit dabei verloren geht.

Wann sind Sie aus der Kirche ausgetreten?

Rappert: Das war lange nach der Rückkehr aus Peru. Wobei ich nach wie vor meine, dass wir sehr viel von der Kirche gelernt haben und sie auch weiter brauchen. Für die Indianer würde ich mir manchmal eine solche Sozialisation wünschen.

War die Entscheidung für Sie ein Abschied von Ihrer Kirche oder auch von Ihrem Glauben?

Rappert: Nein, ich habe meinen Glauben und meinen Gott und ich denke, es ist für jeden wichtig, eine Ethik zu haben. Aber mit der katholischen Kirche war das der Bruch.

Sie haben gesagt, Ihr Missionarstraum habe auch Ihre spätere Berufswahl geprägt. Wie ist der Kontakt zum Freundeskreis entstanden?

Rappert: Als Student habe ich in Südamerika famuliert und später drei Jahre innere Medizin in Berlin gemacht. Das ist auch die Voraussetzung, um nach Peru zu gehen. Dort können keine Berufsanfänger arbeiten. Ich wollte damals nicht mehr nach Afrika, sondern nach Südamerika, weil ich dachte, dass man in Afrika noch mehr Außenseiter ist. Und es gibt nur ganz wenige Organisationen, die in Südamerika arbeiten. Der Kontakt zum Freundeskreis war dann ein Zufall. Bis heute suchen wir auch immer Paare. Meine damalige Frau war mit in Peru und unser dreijähriger Sohn auch.

Wie war die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche?

Rappert: In dem Dorf Puerto Inca, in dem wir unsere kleine Klinik aufgebaut hatten, lebte auch ein Pater und die Kirche hatte uns das Gebäude kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Art der Missionierung war angenehm und nicht aufdringlich und hat für das Dorf eine ganze Menge bedeutet. Aber diese Priester aus Kanada hatten auch eine andere Philosophie. Heute erlebe ich dort immer wieder eine sehr aggressive Missionierung. Mittlerweile sind in Südamerika so viele Kirchen aktiv, die mit ihren Leuten durch den Urwald ziehen - und diese aggressive Art bringt gar nichts, weil sie den Menschen kein Beispiel gibt.

Was meinen Sie mit dem ethischen Gerüst, das Sie sich manchmal auch für die Indianer wünschen?

Rappert: Wir lernen viele andere Kulturen kennen und sehen, dass die Menschen dort in einer Art miteinander umgehen, die uns sehr widerstrebt. Die Familie wird nicht geachtet, die Frau hat überhaupt keine Rechte. Bei den Urarinas zum Beispiel sitzen einem in einer Versammlung nur die Männer und Kinder gegenüber. Und wenn die Frauen kommen, setzen sie sich in eine Ecke mit dem Gesicht zur Wand. Es gibt häufig Vergewaltigungen und das Recht der ersten Nacht für den Häuptling ist schon fast normal. Der Mann darf so viele Frauen haben, wie er ernähren kann. Das hat natürlich alles seine Wurzeln, aber als europäisch und christlich Erzogener ist das mitunter schwer zu ertragen.

Können Sie Ihr eigenes ethisches Gerüst beschreiben?

Rappert: Ich glaube, dass wir sehr viel von anderen Menschen lernen können und ihnen zuhören müssen. Den Gedanken, jeden Tag so zu leben, als könnte er der letzte sein, habe ich mehr und mehr für mich entdeckt und wahrgenommen. Ich gehe anders auf die Menschen zu, ich denke, auch sensibler. Kein Mensch hat das Recht, den anderen zu übervorteilen. Und in der glücklichen Lage, in der wir leben, haben wir die Pflicht, anderen Menschen auch etwas davon abzugeben.

Welche Rolle spielt dabei Albert Schweitzer für Sie?

Rappert: Ich finde seine Gedanken für mich extrem hilfreich und kann sie fast alle unterstreichen: die Ehrfurcht vor dem Leben, den Umgang mit den Menschen. Daher hat er als Arzt und in seiner Arbeit in Lambaréné für den Freundeskreis immer Vorbildfunktion gehabt. Und für mich persönlich ist er ein Vorbild, weil er seine Gedanken in höchstem Maße auch gelebt hat. Ich hätte ihn gerne persönlich kennengelernt. Theodor Binder, der Gründer unseres Freundeskreises und unser erster Arzt in Peru, hat ihn noch in Lambaréné besucht und weil Schweitzer damals so viele Spenden bekam, hat er einigen seiner Spender empfohlen, dass sie stattdessen das Geld dem Freundeskreis geben sollen. Unser erstes Hospital in Pucallpa war nach Albert Schweitzer benannt, später noch ein Projekt in Mexiko. Und unser neuer Kindergarten trägt auch seinen Namen.

Warum gibt es jetzt auch diesen Kindergarten?

Rappert: Das ist unsere neueste Entwicklung. Wenn die Urarinas eine Zukunft haben wollen, muss man mit den Kindern anfangen. Sie müssen Spanisch lernen, um es vielleicht zu schaffen, beispielsweise Lehrer zu werden. Auch ihre eigene Kultur können sie nur bewahren, indem sie weiter lernen. Durch das Bundesverdienstkreuz haben wir jetzt Rückenwind und erstmals in 50 Jahren Gelder vom Bundesentwicklungsminsterium für den Aufbau des Kindergartens bekommen. Aber nun haben wir das Problem, den Aufbau vor Ort auch zu organisieren. Wir wollen auch endlich eine Toilettenanlage bauen, aber das ist in einem Überschwemmungsgebiet kompliziert.

Sie wollen helfen, aber nichts überstülpen. Ist das heute noch ein Konflikt für Sie?

Rappert: Im medizinischen Bereich habe ich damit überhaupt keine Probleme. Wenn ich sehe, dass die Menschen dort an den banalsten Krankheiten sterben, stellt sich mir diese Frage nicht. Aber nur als Arzt hin und her zu reisen, würde mir nicht genügen. Unser Ansatz ist es, dass die Indianer selbst mit diesen Krankheiten fertig werden. Wir bilden darum in jedem Dorf einen jungen Menschen aus, der diagnostizieren und und die Therapie überwachen kann. Aber wenn wir dann beginnen, unsere moralischen Maßstäbe anzusetzen, globalisieren und nivellieren wir damit natürlich auch. Trotzdem werden wir immer dagegen protestieren, wenn dort ein zwölfjähriges Mädchen vergewaltigt wird.

Was können Sie selbst von den Indianern lernen?

Rappert: Ich kann mehr Gelassenheit und Zufriedenheit lernen. Ich kann lernen, auch mit wenig zufrieden zu sein und nicht irgendwelchen Statussymbolen hinterherzujagen. Und ich kann von einigen Indianern lernen, bewusster zu leben und die Natur zu erfahren. Aber den edlen Wilden gibt es so nicht. Von vielen Indianern möchte ich auch gar nichts lernen.

Sie sind 57 Jahre alt und arbeiten seit 30 Jahren für den Freundeskreis. Wie sehen Sie Ihre Zukunft in dem Projekt?

Rappert: Wir suchen auf jeden Fall Leute, die mithelfen, die Arbeit auf breitere Basis zu stellen. Wenn der Kindergarten fertig ist, können wir dort auch ein soziales Jahr anbieten. Und jungen Medizinern können wir ein Praktikum anbieten. Aber schon durch das Verdienstkreuz gibt es neue Interessenten an unserer Arbeit.

Was wünschen Sie sich für die weitere Entwicklung der Indianerhilfe?

Rappert: Ein großer Traum ist eine schwimmende Klinik, die als Diagnostik- und Ausbildungsstation fungiert und auch Wasserüberprüfungen ermöglicht. In zwei Jahren könnte das vielleicht klappen.

Wie feiert ein Indianerfreund und Ex-Katholik Weihnachten?

Rappert: Als Familienfest. Wir laden auch alleinstehende Freunde ein und haben für jeden Tag ein eigenes Programm. Diese Stimmung an Weihnachten finde ich nach wie vor sehr schön. Sie gibt vielen Menschen Wärme und für uns ist das auch so.

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