Experten: Deutschland behält großen Einfluss in EZB

Frankfurt/Berlin/Paris (dpa) - Betont gelassen hat die Bundesregierung auf die EZB-Entscheidung reagiert, den Posten des Chefvolkswirts erstmals nicht mit einem Deutschen zu besetzen. „Die Bundeskanzlerin sieht das nicht als Schlappe“, sagte Vize- Regierungssprecher Georg Streiter in Berlin.

Angela Merkel habe gewusst, dass es keine Erbhöfe bei der Europäischen Zentralbank (EZB) gebe. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte bereits am Dienstagabend von einer „ausbalancierten Entscheidung“ gesprochen. Der finanzpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Gerhard Schick, urteilte indes in der „Rheinischen Post“ (Mittwoch): „Der Versuch der Bundesregierung, das Amt des EZB-Chefvolkswirts als eine Art Erbhof zu betrachten, ist gründlich gescheitert.“

Die EZB hatte sich am Dienstag überraschend auf den Belgier Peter Praet als obersten Volkswirt geeinigt. Der für die Rolle favorisierte Ex-Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen als neuer deutscher Vertreter im sechsköpfigen EZB-Direktorium soll stattdessen die Notenbank bei internationalen Treffen vertreten und EZB-Präsident Mario Draghi bei wichtigen Gipfeln begleiten. Dies sei eine Schlüsselposition von außerordentlicher Wichtigkeit und großer Bedeutung, befand Streiter.

Auch führende Volkswirte hoben in einer dpa-Umfrage Asmussens gewichtige Aufgaben hervor und sprachen von einem „klugen Kompromiss“. Seit Gründung der EZB 1998 hatten stets Deutsche den Posten des EZB-Chefvolkswirts inne: bis Mai 2006 Otmar Issing, anschließend Jürgen Stark. Nachdem Stark aus Protest gegen die Staatsanleihenkäufe der EZB und die Entwicklung der Währungsunion seinen Rücktritt erklärt hatte, hatten sowohl Deutschland als auch Frankreich Anspruch auf die Nachfolge angemeldet.

Die nun getroffene Personalentscheidung bedeute „keine Kehrtwende in der Krisenpolitik“ der EZB, kommentierte Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater. „Diese Politik wird weniger in der volkswirtschaftlichen Abteilung gestaltet als vom gesamten Zentralbankrat und vom Direktorium. Hier sind die großen Länder, gerade auch Deutschland, dicht an den Entscheidungen dran.“ Oberstes Entscheidungsorgan ist der EZB-Rat, dem die 6 Direktoriumsmitglieder sowie die 17 Vertreter der nationalen Notenbanken angehören.

Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW/Köln) bekräftigte: „Es ist eine Illusion zu erwarten, dass die Zuordnung einer Funktion zum Vertreter eines Landes diesem einen besonderen Einfluss eröffnet.“ Die Euro-Schuldenkrise zwinge die EZB dazu, ihre Rolle neu zu definieren: „Sie ist und kann nicht mehr das Abbild der Bundesbank sein.“

Der Belgier Praet gilt als Vertreter der geldpolitische „Tauben“, die notfalls bei der Preisstabilität ein Auge zudrücken, um mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anzuschieben. Linken-Chef Klaus Ernst verbindet einer Twitter-Nachricht zufolge die Wahl Praets mit der Hoffnung, dass die EZB aktiver gegen die Schuldenkrise vorgehen wird.

Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie (IMK/Düsseldorf) mahnte: „Die Nationalität des Chefvolkswirts der EZB ... sollte keine Rolle für dessen Analysen spielen.“ Er habe keinen Zweifel, dass dies der Fall sein werde.

Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Thomas Mayer sieht die „Unabhängigkeit der EZB von politischem Druck“ gestärkt: „Der höchst problematische Prozess des Ausscheidens der beiden Ratsmitglieder Stark und Bini Smaghi wurde dadurch noch zu einem glimpflichen Ende gebracht.“

Der Italiener Lorenzo Bini Smaghi hatte seinen Posten geräumt, nachdem sein Landsmann Draghi im November für den Franzosen Jean-Claude Trichet an die EZB-Spitze gerückt war. Damit waren zwei Italiener im Direktorium vertreten, aber kein Franzose mehr. Vor allem Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte Druck ausgeübt und Bini Smaghis Rücktritt gefordert.

In Europas Hauptstädten spielte die EZB-Aufgabenverteilung am Mittwoch eine eher untergeordnete Rolle. In Frankreich widmeten sich die Zeitungen „Le Figaro“ und „Les Echos“ dem Thema ausführlicher. „Der EZB-Präsident war darum bemüht, die "politischste" der Zentralbank-Abteilungen von jedem Verdacht des Nationalismus fernzuhalten“, schreibt „Le Figaro“.

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