Zugunglück erschüttert Spanien: 80 Todesopfer gezählt

Santiago de Compostela (dpa) - Ein Land steht unter Schock: Überhöhte Geschwindigkeit hat wohl das schwerste Zugunglück in Spanien seit mehr als 40 Jahren verursacht. Mindestens 80 Menschen starben, als der Schnellzug am Mittwochabend in einer Kurve bei Santiago de Compostela aus den Gleisen sprang.

Der Lokführer räumte nach Informationen aus Ermittlerkreisen ein, dass der Zug auf einer Tempo-80-Strecke mit 190 Kilometern pro Stunde gefahren sei. Er soll auf Anordnung des Ermittlungsrichters als Beschuldiger vernommen werden. Gewerkschaften nahmen den erfahrenen 52-Jährigen aber in Schutz und behaupteten: Schuld war das ungeeignete Tempokontrollsystem.

Wie die Regionalbehörden in Galicien mitteilten, wurden 178 Fahrgäste verletzt. 32 Erwachsene und vier Kinder waren demnach am Donnerstagabend noch in kritischem Zustand. Wie viele Ausländer unter den Opfern waren, blieb zunächst unklar. Nur 53 der 80 Todesopfer konnten rasch identifiziert werden. Gerichtsmediziner erklärten, die Identifizierung einiger Toten werde länger dauern.

Nach Angaben des Auswärtigen Amts in Berlin gab es zunächst keine Hinweise darauf, dass Deutsche betroffen seien. Der Koordinator des Projekts Deutschsprachige Pilgerseelsorge in Santiago, Wolfgang Schneller, war anderer Meinung: „Es ist wohl zu befürchten, dass auch Deutsche von diesem Unglück betroffen sind. Wir haben diese Informationen von einem Hotel, in denen wohl deutsche Pilger gewohnt haben. Unsere Seelsorger haben sich auf den Weg gemacht, um Näheres zu erfahren“, sagt Schneller der Nachrichtenagentur dpa.

Unter den Todesopfern ist der in Spanien bekannte Radiojournalist Enrique Beotas. Ums Leben kam auch Rosalina Ynoa, eine ranghohe Beamtin im Entwicklungsministerium der Dominikanischen Republik, die ihrer Schwester in Santiago einen Überraschungsbesuch machen wollte.

Über den Grund der überhöhten Geschwindigkeit, mit der der Zug in die Kurve vier Kilometer vor dem Bahnhof des Wallfahrtsortes eingebogen sein soll, wurde zunächst nichts bekannt. Die staatliche Bahngesellschaft Renfe warnte vor vorschnellen Schlussfolgerungen. Renfe-Präsident Julio Gómez-Pomar erklärte, der Unglückszug sei am Morgen vor dem Unfall inspiziert worden. Er bezeichnete den Lokführer als erfahren und wies darauf hin, dass der Mann seit mehr als einem Jahr auf der Unglücksstrecke im Dienst gewesen sei.

Die Lokführer-Gewerkschaft (Semaf) brachte eine Debatte mit der Behauptung ins Rollen, die Tragödie hätte mit dem modernen ERTMS-Tempokontrollsystem an der Unglücksstelle verhindert werden können. Da die 2011 eingeweihte Hochgeschwindkeitsstrecke aber vier Kilometer vor Santiago - kurz vor der Unfallstelle - ende, sei das ältere ASFA-System im Einsatz gewesen, das den Zug beim Überschreiten der erlaubten Geschwindigkeit nicht immer automatisch abbremse, klagte Semaf-Generalsekretär Juan Jesús Fraile im Radio. „Ideal wäre es gewesen, wenn man die Hochgeschwindkeitsstrecke bis Santiago fertiggebaut hätte“, sagte er.

Das Eisenbahninfrastruktur-Behörde ADIF wies die Vorwürfe zurück. Im städtischen Raum und bei der Stationseinfahrt sei das ASFA das geeignete System, hieß es. Warum der Lokführer den Zug vor der Kurve nicht rechtzeitig abbremste und deutlich zu schnell fuhr, sollen nun Experten klären. Polizei- und Eisenbahnexperten untersuchen die Unfallursache. Einen Anschlag schlossen die Ermittler schnell aus.

Der Lokführer und sein Assistent überlebten das Unglück nahezu unverletzt. Nach Informationen der Zeitung „El País“ soll der Lokführer unmittelbar nach der Katastrophe über Funk der Leitstelle im Bahnhof von Santiago gesagt haben: „Ich hoffe, es gibt keine Toten, denn die gingen auf mein Gewissen.“

Die verkeilten und zerstörten Waggons an der Unfallstelle erinnerten an das folgenschwere ICE-Unglück von Eschede 1998. Die Katastrophe nahe der Pilgerstadt Santiago de Compostela war das erste tödliche Unglück auf einer Strecke des spanischen Hochgeschwindigkeitsnetzes.

Der Wallfahrtsort, der das Ziel des Jakobsweges bildet, sagte alle Feiern zu Ehren des Heiligen Jakobs an diesem Wochenende ab. Die traditionelle Zeremonie ist das wichtigste Fest des Jahres in Santiago. Ministerpräsident Mariano Rajoy ordnete für ganz Spanien eine offizielle Trauer von drei Tagen an.

Regierungschef Rajoy, der selbst aus Santiago stammt, besuchte am Donnerstag die Unfallstelle und sprach mit Verletzten und Angehörigen von Opfern der Katastrophe. „Wie alle wissen, ist heute ein sehr schwieriger Tag“, sagte er. „Wir haben ein schreckliches, dramatisches Unglück erlebt, das wir, wie ich fürchte, noch lange in Erinnerung haben werden.“

Der Unglückszug war am Mittwoch auf der Fahrt von Madrid zur Küstenstadt Ferrol im Nordwesten Spaniens gewesen. An der Unfallstelle hatten die ganze Nacht über Rettungskräfte gearbeitet. Die Menschen wurden zu Blutspenden aufgerufen.

Die Waggons des Zuges wurden bei dem Unglück auseinandergerissen und sprangen aus den Schienen. Einige Wagen prallten neben den Gleisen gegen eine Betonwand und stürzten um, andere Waggons verkeilten sich ineinander. Ein Wagen flog sogar über die Begrenzungsmauer hinweg.

Papst Franziskus zeigte sich betroffen. Der Papst sei über den Unfall informiert worden und im Schmerz mit den Familien und Angehörigen der Opfer verbunden, sagte Vatikan-Sprecher Federico Lombardi am Mittwochabend (Ortszeit) in Rio de Janeiro, wo sich Franziskus bis Sonntag anlässlich des Weltjugendtages zu seiner ersten Auslandsreise aufhält. Lombardi bat vor Beginn der täglichen Pressekonferenz um eine Gedenkminute für die Opfer.

Bundeskanzlerin Kanzlerin Angela Merkel (CDU) reagierte ebenfalls erschüttert und übermittelte die Anteilnahme Deutschlands „in diesen Stunden des Schmerzes“. Merkel schrieb an Rajoy: „Die Bilder von der Unglücksstelle lassen das entsetzliche Leid nur erahnen.“ Auch Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bekundete seine Trauer.

Das Katastrophe war das drittschwerste Bahnunglück in der spanischen Geschichte. 1944 kamen bei einer Zugkollision bei León im Norden des Landes wahrscheinlich mehr als 500 Menschen ums Leben; die Zensur der Franco-Diktatur bezifferte die Zahl der Opfer auf 78. Im Jahr 1972 forderte ein Zugunglück in Andalusien 86 Menschenleben.

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