„Wir sind entgleist!“ - Bahnkatastrophe erschüttert Spanien

Madrid/Santiago de Compostela (dpa) - Der Zug rast plötzlich ins Bild, legt sich in die enge Kurve, und nur zwei, drei Sekunden später springen Lok und Waggons aus den Schienen.

Sie zerschellen wie billiges Spielzeug an einer Betonmauer. Die Zugkatastrophe im Nordwesten Spaniens, eine der schlimmsten in der Geschichte des Landes, wurde von einer Überwachungskamera an der Strecke festgehalten. Kurz nach der Entgleisung bot sich den herbeigeeilten Menschen ein Bild des Schreckens: „Wir haben da kaputte Menschen gesehen, wie sie Kinder aus den Zugtrümmern herausgeholt haben“, sagte ein junger Mann spanischen Journalisten.

Der Schnellzug von Madrid nach Ferrol war am Mittwochabend vier Kilometer vor der Einfahrt in den Bahnhof der Pilgerstadt Santiago de Compostela aus den Schienen gesprungen und in mehrere Teile zerbrochen. Mindestens 80 Menschen wurden dabei getötet, etwa 180 verletzt, mehr als 30 von ihnen schwer.

Neben dem Bahndamm waren nach dem Unglück zahlreiche in Decken gehüllte Leichen zu sehen, blutüberströmte Verletzte wurden aus zertrümmerten Waggons gezogen: Kein Wagen des Unglückszuges stand mehr auf den Gleisen. Die Bergungs- und Räumungsarbeiten waren am Donnerstagnachmittag immer noch im vollen Gange.

Die vorderen Waggons waren nach der Entgleisung auf eine Böschung neben den Schienen gekippt, ein Wagen flog über eine Barriere neben dem Bahndamm hinweg und landete auf einer Straße in der Nähe mehrerer Wohnhäuser. Die hinteren Waggons prallten gegen eine Abgrenzungsmauer und verkeilten sich ineinander.

Zwei Wagen waren so sehr zerstört, dass es Stunden dauerte, bis die Rettungskräfte sich den Weg ins Innere bahnen konnten. Dazu wurden die Wagen mit zwei riesigen Kränen vom Bahndamm auf eine Straße gehievt.

Anwohner waren die ersten Helfer, die zur Stelle waren. „Wir haben Scheiben der Waggons eingeschlagen und Tote und Verletzte ins Freie gezogen“, erzählte einer von ihnen der Zeitung „La Voz de Galicia“. Ein 76-Jähriger sagte: „Als wir zur Unglücksstelle kamen, sahen wir Rauch und einen Haufen von Trümmern. Da noch keine Helfer zur Stelle waren, haben wir Bretter als Tragen benutzt, um die Verletzten abzutransportieren. Einige von uns brachten Decken und Wasser.“

Das Unglück löste eine Welle der Solidarität aus. Als die Behörden zu Blutspenden aufriefen, meldeten sich so viele Freiwillige, dass die Krankenhäuser den Andrang kaum bewältigen konnten.

„Die ganze Stadt steht wie unter Schock“, sagte der Koordinator des Projekts „Deutschsprachige Pilgerseelsorge in Santiago“, Wolfgang Schneller, der Nachrichtenagentur dpa. Es sei zu befürchten, dass auch Deutsche vom Unglück betroffen seien. Offizielle Stellen bestätigten das nicht - die Identität vieler Opfer blieb vorerst unbekannt.

Einige Anwohner wollten kurz vor dem Entgleisen des Zuges einen lauten Knall oder eine Explosion gehört haben. Gleich nach dem Unglück stieg eine Rauchwolke über der Unfallstelle auf. Das spanische Innenministerium leitete in aller Eile eine Untersuchung ein und stellte noch in der Nacht fest: Ein Terroranschlag oder ein Sabotageakt konnten als Unglücksursache ausgeschlossen werden.

Die beiden Lokführer überstanden das Unglück nahezu unverletzt. Wie aus Ermittlerkreisen verlautete, hatte einer von ihnen in einem Gespräch mit seinen Vorgesetzten immer wieder in sein Handy gerufen: „Wir sind entgleist! Was können wir tun?“ Der Lokführer gab nach diesen Informationen auch zu, an der Unglücksstelle mit 190 Stundenkilometern in eine Kurve gefahren zu sein, obwohl dort nur Tempo 80 erlaubt war. Auf Anordnung des Ermittlungsrichters soll er als Beschuldigter aussagen.

Der Schnellzug Alvia-04155 entgleiste am Mittwoch um 20.41 Uhr. Das war genau die Zeit, zu der er laut Fahrplan in Santiago hätte ankommen sollen. Er hatte fünf Minuten Verspätung. Die Bahngesellschaft Renfe wollte die Spekulation, dass die Lokführer möglicherweise Zeit aufholen wollten, nicht gelten lassen. „Verspätungen in einer Größenordnung von fünf Minuten sind auf diesen Strecken nicht ungewöhnlich“, erfuhr die Nachrichtenagentur EFE aus Kreisen des Unternehmens.

Die Katastrophe geschah auf einem Neubau-Abschnitt des Hochgeschwindigkeitsnetzes der spanischen Bahn. Dort durfte der Zug auf einer langen geraden Strecke mehr als 200 km/h fahren. Am Stadtrand von Santiago hätte er abbremsen müssen, weil die Bahnstrecke eine enge Kurve macht. Weshalb der Zug nicht genügend bremste, war zunächst unbekannt.

An der Unglücksstelle hatten die Konstrukteure für die Hochgeschwindigkeitszüge keine neue Trasse gebaut, sondern die Gleise neben den Schienen der konventionellen Bahnlinie verlegt. Experten hatten schon vor Jahren bemängelt, dass die Kurve problematisch sei. Dies bekamen schon die Fahrgäste zu spüren, die bei der Einweihung der Strecke im Dezember 2011 bei der Premiere dabei waren. Sie verspürten, wie die Zeitung „El País“ erinnerte, beim Einbiegen in die Kurve einen kräftigen Ruck: Einige von ihnen hätten damals fast das Gleichgewicht verloren.

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