Referendum Werden Iraks Kurden nun unabhängig?

Erbil (dpa) — Als Hewa Kamal Scharif um 19.02 Uhr mit der Auszählung der Stimmen beginnen will, klemmt der Deckel der Wahlurne.

Aber das soll das einzige Problem bleiben, dass der Wahlhelfer aus der kurdischen Regionalhauptstadt Erbil im Nordirak an diesem Montagabend lösen muss. Eine halbe Stunde später hält der 31-Jährige einen Zettel hoch, auf dem er das Ergebnis seines Wahllokals notiert: 449 Stimmen für die Unabhängigkeit der Kurden, rund 95 Prozent. „Wir gewinnen“, sagt Scharif, er wirkt sehr zufrieden. „Das ist unser alter Traum.“

Bislang liegt kein Endergebnis des Unabhängigkeitsreferendums der Kurden im Nordirak vor. Doch niemand bezweifelt, dass das Ja zur Abspaltung vom Rest des geschundenen Landes ähnlich klar ausfallen dürfte wie in Scharifs Wahllokal. Schon am Montagabend feierten die Menschen in Iraks Kurdengebieten ausgelassen auf der Straße.

Autos fuhren hupend durch die kurdische Regionalhauptstadt Erbil, jubelnde Menschen lehnten sich bei voller Fahrt waghalsig aus Fenstern und geöffneten Schiebedächern, um rot-weiß-grüne kurdische Fahnen zu schwenken. Andere tanzten zu lauter Musik auf den Bürgersteigen, Feuerwerk stieg auf, Freudenschüsse waren zu hören.

Mit der Unabhängigkeit würde sich für die Kurden ein jahrzehntealter Traum erfüllen, der von Generation zu Generation weiterlebt. Die Psychologie dahinter machte Kurden-Präsident Massud Barsani am Sonntag an seinem Amtssitz vor Journalisten noch einmal deutlich. Im Kern lautet sie: Wir haben lange genug unter der Zentralregierung in Bagdad gelitten, jetzt haben wir das Recht auf Unabhängigkeit.

Barsani erinnerte dabei an die Verbrechen an den Kurden unter Ex-Diktator Saddam Hussein in den 1980er Jahren: die Anfal-Kampagne, der Zehntausende zum Opfer fielen, und der Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha. Traumatische Erlebnisse, die sich in das kollektive Gedächtnis der Kurden eingebrannt haben. Einige an der Macht in Bagdad hätten heute noch dieselbe Mentalität wie damals, sagte Barsani: „Nur durch Unabhängigkeit können wir unsere Zukunft sichern.“

Der Kurden-Präsident hat das Referendum vorangetrieben, auch weil er innenpolitisch unter Druck steht. Die Hoffnungen der Kurden sind jetzt gewaltig — doch genauso groß könnte die Enttäuschung werden. Denn wenig spricht dafür, dass die Unabhängigkeit, die Barsani durch Verhandlungen mit Bagdad erreichen will, schnell kommen wird.

Iraks Ministerpräsident Haidar al-Abadi will das Ergebnis des Referendums nicht anerkennen. Sogar Kriegsrhetorik ist aus der irakischen Hauptstadt zu hören. Damit wächst auch die Sorge vor einem neuen militärischen Konflikt in einem Land. Das US-Außenministerium erklärte, es sei „tief enttäuscht“ von dem Referendum. Washington befürchtet, der Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) könnte geschwächt werden. An diesem wollen sich die Kurden weiter beteiligen. Und tatsächlich gibt es weiterhin Absprachen zwischen der irakischen Armee und den kurdischen Peschmerga-Kämpfern.

Besonders scharfer Widerstand kommt zudem aus der Türkei, obwohl der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Barsani eigentlich enge Verbindungen pflegten. Erst im Frühjahr besuchte der Kurden-Präsident die Türkei, am Istanbuler Atatürk-Flughafen hissten die Gastgeber dafür eigens die Kurden-Flagge. Umso schwerer wiegt nun Erdogans Ärger darüber, dass sich Barsani nicht vom Referendum abbringen ließ - und umso lauter ist das Säbelrasseln aus Ankara.

Die Türkei unterhält zwar neben politischen auch enge wirtschaftliche Beziehungen zur Kurdenregion im Nordirak. Einen eigenen Kurdenstaat lehnt Ankara aber ab, weil er Unabhängigkeitsbestrebungen der kurdischen Minderheit in der Türkei befeuern würde.

Außerdem versucht Ankara schon seit Längerem, Versuche der Kurden in Nordsyrien zu unterlaufen, dort in den Wirren des Bürgerkrieges mehr Autonomie zu bekommen. Im August marschierte das türkische Militär deswegen im Nachbarland ein. Nach diesem Vorbild droht Erdogan nun auch mit einer Intervention im Nordirak. „Wir können eines Nachts ganz plötzlich kommen“, warnte er. Türkische und irakische Truppen begannen zur Machtdemonstration ein gemeinsames Militärmanöver.

Noch deutlich mehr Wirkung könnten wirtschaftliche Sanktionen zeigen - schließlich exportieren die wirtschaftlich ohnehin geschwächten Kurdengebiete ihr Öl über die Türkei. „Sobald wir das Ventil abdrehen, ist es auch damit vorbei“, warnte Erdogan die Kurden. Doch Kurden-Präsident Barsani gibt sich dennoch gelassen: „Wirtschaftliche Sanktionen sind negativ für beide Seiten“, sagte er.

Berlin wird die Entwicklung genau beobachten, denn Deutschland unterstützt die kurdischen Peschmerga-Kämpfer mit Waffen, Ausrüstung und Ausbildung. Schon beim Start der Mission 2014 gab es Befürchtungen, diese Hilfe könnte sich irgendwann einmal gegen die Zentralregierung in Bagdad richten. Barsani sagt, er erwarte keine Zusammenstöße mit der irakischen Armee. Er macht aber auch klar: Die Peschmerga-Kämpfer seien bereit, auf jeden Angriff zu reagieren.

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