Analyse Tempelberg-Krise birgt weiter Sprengkraft

Jerusalem (dpa) - Eine Gruppe von Frauen mit bunten Kopftüchern sitzt auf der Straße vor dem Löwentor in Jerusalem auf Gebetsteppichen. „Wir opfern unsere Seelen und unser Blut für die Al-Aksa-Moschee“, rufen sie laut in Sprechchören.

Aus Protest gegen Sicherheitsmaßnahmen Israels am Tempelberg, der Juden und Muslimen heilig ist, sitzen sie am Eingang zur Altstadt dicht gedrängt auf der Erde.

Israels Polizei hat zwar in der Nacht zum Dienstag umstrittene Metalldetektoren wieder abgebaut, ebenso wie neu angebrachte Überwachungskameras. Das Sicherheitskabinett um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagierte mit der Entscheidung auf blutige Unruhen und gab internationalem Druck nach, unter anderem von der Türkei und Jordanien.

Doch die Palästinenser sind damit noch nicht zufrieden. Sie lehnen auch neue, von Israel angekündigte hochmoderne Überwachungsmethoden ab, die als Alternative zu den Metalldetektoren eingerichtet werden sollen.

Als Omar Kiswani, Direktor der Al-Aksa-Moschee, an einem Tor zum Tempelberg ankommt, wird er von wartenden Palästinensern bedrängt, nicht aufzugeben. Sie seien bereit, ihre Protestmaßnahmen fortzusetzen, beteuern sie. „Wir lassen Euch nicht hängen“, sagt der imposante Mann mit der weißen Kopfbedeckung und dem graumelierten Vollbart.

Auch der 66-jährige Obeid Fachuri aus Jerusalems Altstadt sagt, er werde nicht zum Gebet in die Al-Aksa-Moschee gehen, „bevor alle Hürden entfernt sind“. Wie andere gläubige Muslime weigert er sich seit Tagen, zum Gebet auf den Tempelberg zu gehen, den sie als „Haram al-Scharif“ (Edles Heiligtum) verehren. Von hier aus soll der Prophet Mohammed gen Himmel geritten sein.

Auch Juden ist die Stätte heilig, sie dürfen hier aber nicht beten, weil dies von den Palästinensern auf einem islamischen Heiligtum als Provokation betrachtet wird. Israelische und viele internationale Archäologen betrachten es als Tatsache, dass am Ort des heutigen Tempelbergs zwei jüdische Tempel standen, die beide zerstört wurden, der zweite im Jahr 70 durch die Römer. Von palästinensischer Seite wird die Existenz der Tempel hingegen in Zweifel gezogen - wohl auch aus politischen Erwägungen. Die Palästinenser werfen Israel vor, es wolle schrittweise die Kontrolle über das Plateau übernehmen und sehen die Sicherheitsmaßnahmen als weiteren Beweis dafür.

Israel hatte die Metalldetektoren aufgestellt, nachdem drei arabische Attentäter am 14. Juli zwei israelische Polizisten erschossen hatten, die an einem Eingang des Tempelbergs Wache hielten. Bilder von Überwachungskameras in der Altstadt zeigten nach Polizeiangaben, wie ein Helfershelfer die Waffen auf den Tempelberg schmuggelte. Die Angreifer flohen nach der tödlichen Attacke zurück auf das heilige Areal und wurden dann von israelischen Sicherheitskräften erschossen.

Als Reaktion auf den schwerwiegenden Vorfall will Israel die Überwachung in der Umgebung des Tempelbergs verbessern. Das neue, alternative Sicherheitssystem soll umgerechnet 24 Millionen Euro kosten und binnen eines halben Jahres eingerichtet werden. Bis zur Umsetzung will Israels Polizei ihre Präsenz am Tempelberg verstärken.

Nach israelischen Medienberichten handelt es sich um „schlaue“ Kameras, die Gesichter erkennen können und entdecken, wenn Personen Waffen oder Sprengsätze unter ihrer Kleidung versteckt haben. Gesichter könnten automatisch erkannt und Sicherheitskräfte so gewarnt werden, wenn gesuchte Personen den Tempelberg betreten wollen.

Die Palästinenser begegnen den israelischen Entscheidungen jedoch mit tiefstem Misstrauen. Es herrscht etwa die Sorge, auch stark verschleierte Musliminnen könnten durch Nacktscanner bloßgestellt werden. Muslimische Repräsentanten fordern eine komplette Rückkehr zu der Situation vor dem Anschlag am 14. Juli, sie sind gegen jede Form der weiteren Überwachung.

Es ist nicht das erste Mal, das ein Streit um den Tempelberg Blutvergießen auslöst. Als Netanjahu 1996 während seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident einen Tunnel an der Klagemauer öffnen ließ, kam es zu blutigen Unruhen in den Palästinensergebieten. Nach einem demonstrativen Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Scharon auf dem Tempelberg im Jahr 2000 begann der zweite Palästinenseraufstand Intifada. Auch eine Welle palästinensischer Anschläge entzündete sich vor fast zwei Jahren an einem Streit über Gebetsrechte auf dem Plateau.

Der UN-Nahostbeauftragte Nikolaj Mladenow warnte am Montag vor „katastrophalen Auswirkungen“ des jüngsten Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern. Der Tempelberg-Streit könnte in andere Länder überschwappen, auch jenseits des Nahen Ostens. Der Streit um die drittheiligste Stätte des Islams beeinflusse „Hunderte von Millionen, wenn nicht Milliarden, von Menschen auf der ganzen Welt“.

Ein Kommentator der israelischen Zeitung „Haaretz“ schrieb am Dienstag, Netanjahu verstehe durchaus „das explosive Potenzial des Tempelbergs. Er habe sich jedoch „in die Krise zerren lassen, weil er seine politischen Rivalen innerhalb der Rechten fürchtet“. Erst ein tödlicher Vorfall in der israelischen Botschaft in Amman und Spannunngen mit dem jordanischen Nachbarland hätten ihn jedoch überzeugt, sich zu bewegen. Der Regierungschef habe begriffen, „dass er auf dem Weg zu einem völligen Kontrollverlust war und es an der Zeit war, diese Krise zu beenden“.

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