Vier Wochen nach dem Anschlag Nicht alle kehren zur Normalität zurück

Berlin (dpa) - Nichts ist mehr wie es war. Vier Wochen nach dem Berliner Terroranschlag verharren Familien, Firmen, Freunde in oft sprachloser Trauer. Schwerverletzte wissen nicht, wie es mit ihrem Leben weitergeht.

Vier Wochen nach dem Anschlag: Nicht alle kehren zur Normalität zurück
Foto: dpa

Selbst Helfer brauchen Hilfe, um die schrecklichen Bilder zu verarbeiten. Bis heute erinnern frische Blumen und Kerzen an den Abend des 19. Dezember, als ein schwerer Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche raste. Elf Menschen starben dadurch. Ein weiteres Opfer war der polnische Fahrer des entführten Lasters, der erschossen wurde. Elf der mehr als 50 Verletzten werden noch auf Intensivstationen in Kliniken betreut.

Der Attentäter Anis Amri wurde auf der Flucht in Italien von Polizisten erschossen. Über den aus Tunesien stammenden Islamisten, der sich in Deutschland mit mehr als einem Dutzend Identitäten Sozialleistungen erschlich, ist inzwischen vieles bekannt. Über die Opfer dagegen weniger.

Viele Hinterbliebene wollten in Ruhe gelassen werden, berichtet der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber aus den Gesprächen. Angehörige müssten Erbscheine beantragen, Beerdigungen organisieren und Haushalte auflösen. Auch für etliche Überlebende sei es noch zu früh, aus der schützenden Anonymität herauszukommen. Es sei aber möglich, dass einige mit etwas Abstand über ihr Leid sprechen möchten. So gibt es derzeit nur Schicksals-Puzzleteile.

Da muss sich ein Verletzter eingestehen, keine Kraft zu haben, sich um irgendetwas zu kümmern. Das Opfer werde lange nicht arbeiten können, sagt der Opferbeauftragte Weber. Die schrecklichen Bilder würden den Mann verfolgen, er habe neben zwei Toten gelegen.

In Brandenburg wird ein 32-Jähriger zu Grabe getragen, der auf dem Weihnachtsmarkt eine bestandene Prüfung feiern wollte. Der Pfarrer spricht von „unendlicher Traurigkeit“ über den Tod des angesehenen ehrenamtlichen Feuerwehrmanns, berichtet die „Märkische Allgemeine“.

In einem Berliner Unternehmen herrscht nach außen absolutes Schweigen. Hier sollen mehrere Angestellte unter den Opfern sein, zwei seien gestorben. An dem Abend kurz vor Weihnachten wollten die Kollegen zusammen etwas trinken.

Ein Bankinstitut schaltet eine Traueranzeige für eine Kollegin, die eine „außerordentlich große Wertschätzung“ genoss. Ihre „hohe fachliche und menschliche Kompetenz“ bleibe in dankbarer Erinnerung.

Nach dem Anschlag fanden auch Politiker angemessene Worte des Mitgefühls, es gab einen Tag später eine riesige Andacht mit Bundespräsident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Gedächtniskirche. Vielleicht ist das aber im öffentlichen Bewusstsein nicht ganz als Gedenken angekommen - weil viele noch geschockt waren, ist jetzt zu hören. Nun mehren sich die Stimmen, die einen Staatsakt für die Opfer fordern.

Vorbild könnten Trauerveranstaltungen nach Terroranschlägen in anderen Ländern sein, sagt etwa Petra Pau (Linke) im „Tagesspiegel“. Die Bundesregierung ist bislang zurückhaltend. Es sei Verpflichtung, die Hintergründe des Anschlags aufzuklären und alles dafür zu tun, dass in Deutschland Sicherheit und Freiheit gelebt werden könne, sagt Regierungssprecher Steffen Seibert.

Nach der tiefen Betroffenheit scheint die Hauptstadt zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hatte die Berliner beschworen, das zu tun, was sie in schweren Zeiten immer getan hätten: zusammenrücken und besonnen sein.

Aus Sicht des Opferbeauftragten ist die Anteilnahme vieler Menschen „größer als sie scheint“. „Es ist neu, dass sich jetzt Bürger bei mir melden und fragen: Was kann ich tun, wo kann ich mich einbringen und helfen?“

Weber gibt aber höflich zu bedenken: „Ohne die Ehrenamtler und das Zusatzengagement anderer sähe es nicht so gut aus bei der Betreuung.“ Viele Betroffene wurden inzwischen an die richtigen Stellen gelenkt oder im Krankenhaus besucht. Hilfen wie Traumabetreuung, rechtlicher Beistand oder Kontakte zu Behörden werden vermittelt.

Fühlen sich Betroffene trotz aller Hilfe allein gelassen? Wünschen sie sich mehr Aufmerksamkeit von Seiten der Politik? Eine Frau, deren Lebensgefährte seit dem Anschlag um sein Leben kämpft, sagt dem „Tagesspiegel“: „Ich finde die mangelnde Beachtung von Seiten des Staates traurig und unwürdig.“ Doch was ist würdig - Staatsakt, dauerhafter Gedenkort oder praktische Hilfe?

Erste gesammelte Spendengelder wurden verteilt. Angelaufen sind auch Zahlungen vom Bund. Das Bundesamt für Justiz in Bonn sichert zu: „Wir entschädigen auf jeden Fall.“ Nahe Angehörige von Todesopfern wie Eltern, Kinder und Ehepartner erhielten in früheren Fällen 10 000 Euro, Geschwister 5000 Euro. Verletzte könnten nach Schweregrad einmalig höhere Summen bekommen.

Über das Bundesamt erhalten seit dem Anschlag auf der tunesischen Insel Dscherba im Jahr 2002 „Opfer terroristischer Straftaten“ Geld. Die Summen bewilligt der Bundestag jährlich. Die Angehörigen der Opfer der NSU-Mordserie erhielten insgesamt etwa 900 000 Euro.

Das Opferentschädigungsgesetz greift im Fall des Berliner Anschlags indes nicht. Es gilt nicht für Schäden, die von einem Angreifer durch ein Kraftfahrzeug verursacht wurden. Aber die Verkehrsopferhilfe zahlt. Pro Fall stehen maximal 7,5 Millionen für alle Opfer bereit - etwa für schwere Behinderungen, Berufsunfähigkeit oder Unterhalt für Hinterbliebene. Im Bundessozialministerium wird seit längerem das Soziale Entschädigungsrecht überarbeitet. Ziel ist es, alle Regelungen übersichtlich zusammen zu führen.

In der Berliner Gedächtniskirche tragen sich bis heute Menschen in das Kondolenzbuch ein und drücken Empathie aus. „Das Buch bleibt noch liegen“, sagt Pfarrer Martin Germer. Ob es nochmal ein größeres Gedenken in der Kirche gibt, sei unklar. „Wir wissen noch nicht, ob es den Angehörigen gut tun würde“, sagt Germer. „Ihre Wünsche müssen im Vordergrund stehen und nicht das, was Politiker wollen.“

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